Russlands Wirtschaft und Corona: Jeder kämpft für sich
Die Folgen von Corona werden vor allem kleinere und mittlere Betriebe treffen. Makroökonomisch hingegen steht Moskau derzeit gut da.
Im Vergleich zu den Nothaushalten in den USA und in der EU nehmen sich diese Überbrückungshilfen jedoch bescheiden aus. Beobachter vermuten denn auch, die russische Mittelschicht könnte letztendlich die Hauptlast tragen.
Am letzten Abend vor den Corona-Zwangsferien, die der Kreml dem Land bis Ende April verordnete, ist die Stimmung im sonst pulsierenden Vergnügungsviertel im Zentrum der Hauptstadt um die Maroseika Straße denn auch gedämpft. Zumindest unter der Belegschaft des “ekspromt“. Gerade einmal zehn Gäste haben sich eingefunden.
„Wir wissen nicht, wie es weiter geht“, sagt die junge Bedienung Anna. „Ob das Restaurant nach der Auszeit weitermacht, wer weiß das schon“? Auch die anderen Servicekräfte, alle Mitte zwanzig, zucken mit den Schultern. Mal schauen, ist die reflexhafte Antwort. Russland werde ja immer mal wieder von Schicksalsschlägen heimgesucht.
Keine größeren Rücklagen
Im Unterschied zu den Forderungen des Kreml, den Mitarbeitern trotz Zwangsferien Löhne zu zahlen, gehen die Angestellten in der Maroseika leer aus. Sie erwarten vom Arbeitgeber keine Unterstützung. Jeder kämpfe wieder für sich allein, meint Anna. Auch die meisten Restaurantbetreiber verfügten nicht über größere Rücklagen.
Beobachter rechnen mit der Schließung eines Drittels aller privaten kleineren und mittleren Betriebe im Laufe der nächsten Monate. „Am Ende wird Moskau nicht mehr so eine abwechslungsreiche Stadt sein“, sagt Anna.
Vor dem Hintergrund, dass der Preis für ein Barrel Öl weit unter 30 Euro rutschte, der Rubel fast ein Drittel des Werts seit Jahresbeginn einbüßte und Moskau sich noch einen Preiskrieg mit Saudi-Arabien ums Öl leistet, bleibt Russland ziemlich nüchtern. Drum herum werden Rettungspakete geschnürt. Alte Auflagen wie die schwarze Null, bislang das Mantra der deutschen Bundesregierung, dürfen inzwischen missachtet werden.
Gelingt es Moskau, sich aus dem Debakel herauszuhalten? Russland hat in den vergangenen Jahren nichts für die Modernisierung der Wirtschaft unternommen. Dennoch ist seine Ökonomie unempfindlicher geworden. Seit der Annexion der Krim 2014 und dem Krieg in der Ukraine sah Moskau sich genötigt, sich weiter auf sich selbst zurückzuziehen. Wachstumspolitik war nicht mehr das Ziel. Vielmehr galt es, Russland gegen Verwerfungen der Weltwirtschaft abzusichern.
Mehr Eigenproduktion
Russische Firmen mussten sich nach 2014 entschulden, da der Kapitalmarkt wegen westlicher Sanktionen für Moskau nicht mehr zugänglich war. Dies ging auch einher mit der Steigerung heimischer Landwirtschaftsproduktion. Gerade mal 24 Prozent der Lebensmittel werden noch importiert.
Noch wichtiger ist indes: Immense Rücklagen sorgen in Moskau für Entspannung. Russland verfügt über mehr als 500 Milliarden Euro Rücklagen und besitzt überdies noch die größten Goldreserven der Welt.
Selbst die Rubelabwertung um fast ein Viertel seit Jahresbeginn schlägt noch positiv zu Buche: Der günstigere, niedrigere Rubelkurs fängt die Verluste auf, die der gefallene Ölpreis verursacht. Der heimische Markt profitiert vom gesunkenen Umtauschkurs.
Kleine und mittlere Betriebe haben ohnehin schon einen schweren Stand. Ihr Anteil ist in den vergangenen Jahren bereits deutlich geschrumpft.
Kein Kollaps
Die Zeitung RBK ermittelte, welche Verluste die arbeitsfreie Zwangspause für kleine und mittlere Betriebe in Moskau bedeutet. Ein geschlossenes Blumengeschäft verliert 30 bis 45 000 Rubel (350-500 Euro) am Tag, ein kleines Cafe im Zentrum büßt zwischen 100 und 200000 Rubel ein. Einem Schönheitssalon gehen 50 bis 100000 Rubel verloren. Ohne staatliche Unterstützung halten die meisten Betriebe nur kurze Zeit durch.
Der Wirtschaftswissenschaftler Ruben Enikolopow sieht dennoch keinen ökonomischen Kollaps heraufziehen. Viele verlören zwar den Job oder gleich kleinere Firmen. Die sozialen Konsequenzen seien jedoch schwerwiegender als die makroökonomischen Auswirkungen, meint Enikopolow.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Die Wahrheit
Der erste Schnee