Russlands Vorstoß in der Ostukraine: Deutsche Waffen für Kiew?

Die Eskalation wirft erneut die Frage nach deutschen Waffenexporten in die Ukraine auf. Aus der Historie lässt sich ein Ja ebenso ableiten wie ein Nein.

Frauen und Soldaten heben die Hände

Ukraine, 1941: Zivilisten und sowjetische Soldaten ergeben sich den Deutschen Foto: Stefan Arczynski/akg/picture alliance

Die Anerkennung der „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk, der Einmarsch russischer Militärverbände und der damit verbundene Bruch des Völkerrechts lassen erneut die Rufe nach deutschen Waffenlieferungen für die Ukraine aufleben. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, hat am Dienstag die Lieferung von „Defensivwaffen“ verlangt. Politiker der Ampelkoalition blieben jedoch bei ihrer Ablehnung.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder die „historische „Verantwortung“ der Bundesrepublik benannt. Sie dient sowohl als Vehikel für eine Befürwortung solcher Waffenlieferungen als auch für das genaue Gegenteil. Verantwortung meint namentlich den Angriffskrieg des NS-Regimes zwischen 1941 und 1945. Verweisen die einen – etwa Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem ersten Besuch in Kiew – darauf, dass es diese deutsche Verantwortung gebiete, keine Waffen in ein Land zu liefern, dem ein Krieg mit Russland droht, argumentieren andere, darunter die Literaturnobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller, dass es gerade diese Geschichte sei, die solche Waffenlieferungen nahelege.

Ausgangspunkt für die zweite Position ist die unbestrittene Tatsache, dass die damalige Sowjetrepublik ganz besonders unter dem Krieg und den Massakern der Deutschen an der Zivilbevölkerung gelitten hat. Etwa 4,5 Millionen Menschen, so die Schätzung, kamen ums Leben, darunter vermutlich etwa 1,5 Millionen Juden und Roma sowie Hunderttausende weitere Zivilisten, die an Kriegshandlungen gar nicht beteiligt waren und Opfer der NS-Vernichtungspolitik wurden. Weil das Land besonders viele Opfer zu beklagen hatte, ergebe sich daraus die moralische Pflicht, seine Bevölkerung in der heutigen Bedrohungslage zu unterstützen – auch mit Waffen.

Die Gegner von Waffenlieferungen argumentieren, dass aus dem Krieg gegen die Sowjetunion mit insgesamt etwa 27 Millionen Opfern, darunter mehrheitlich Zivilisten, eine besondere Schuld erwachse, die Waffenlieferungen in Staaten dieser ehemaligen Union verbiete. Deutsche Waffen dürften keinesfalls dort zum Einsatz kommen, wo sie schon einmal furchtbares Elend angerichtet haben.

Eine Art Opferkonkurrenz

Festzuhalten ist zunächst, dass sich der NS-Vernichtungskrieg in der Sowjetunion gegen alle dort lebenden Menschen richtete. Sowjetbürger, egal ob Belarussen, Ukrainer oder Russen, galten den Deutschen als „minderwertige Slawen“, ja als „Untermenschen“, deren Ermordung von Beginn des „Barbarossa“-Feldzugs an in die deutschen Planungen einbezogen war. Dazu zählte etwa die Tötung von etwa 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen infolge völlig unzureichender Lebensbedingungen in deutschen Lagern, aber auch der Mord an Zivilisten durch eine beabsichtigt extrem mangelhafte Lebensmittelversorgung. Noch bedrohter waren die Juden, die in der Sowjetunion im Rahmen der „Endlösung“ systematisch Mordbanden wie den Einsatzgruppen zum Opfer fielen.

Der Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre hat dazu geführt, dass sich neben Russland eine ganze Reihe Einzelstaaten neu bilden konnten und die baltischen Länder ihre Souveränität endlich zurückerhielten. Diese Staaten verweisen nun auch – jeder für sich – auf die besonderen Opfer, die ihre Bevölkerung in der NS-Besatzungszeit zu erleiden hatte. Daraus ist in einzelnen Fällen eine Art Opferkonkurrenz erwachsen, etwa wenn die Ukraine unterstreicht, dass auf ihrem Staatsgebiet die meisten Jüdinnen und Juden umgebracht worden sind, und daraus ableitet, Anspruch auf ein eigenes Denkmal für „ihre“ Ermordeten in Berlin zu beanspruchen, ähnlich wie Polen.

Verkompliziert wird die Angelegenheit dadurch, dass der sowjetische Machthaber Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen neu ziehen ließ. Polen etwa verlor seine östlichen Regionen an die Sowjetunion. Heute liegen diese Gebiete in Belarus und der Ukraine. Aber gelten die Opfer von damals nun als Ukrainer, Belarussen oder als Polen?

Der Versuch, die sowjetischen Opfer im Nachhinein heutigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zuzuordnen, hat einen makabren Beigeschmack. Denn diese Menschen starben eben nicht aufgrund einer bestimmten Nationszugehörigkeit, die mit den heutigen Nachfolgestaaten kaum etwas zu tun hat. Sie wurden vielmehr Opfer von Rassismus beziehungsweise Antisemitismus, der sich unterschiedslos gegen alle richtete, insbesondere aber gegen Juden. Daraus das Argument zu destillieren, die deutsche Geschichte gebiete Waffenlieferungen an eines dieser Länder in einem möglichen Krieg gegen ein anderes, erscheint zumindest gewagt – unabhängig von der Tatsache, dass Russland die Verantwortung für die aktuelle Eskalation trägt.

Und der Kalte Krieg?

Aber auch die gegenteilige These, angesichts der deutschen Verantwortung seien Waffenlieferungen an die Ukraine moralisch auszuschließen, weil damit möglicherweise Russen getötet werden könnten, steht auf dünnem Eis. Schließlich hat sich über die Jahrzehnte des Kalten Kriegs kaum ein Westdeutscher daran gestört, dass die Waffen der Bundeswehr und ihrer Nato-Verbündeten selbstverständlich für den Fall eines Krieges gegen die Sowjetunion und ihre Völker gerichtet waren. Noch weniger wollte man bis weit in die 1980er Jahre davon wissen, welches Leid das NS-Regime im Osten angerichtet hat.

Fazit: Historische Ereignisse eignen sich nicht immer, um daraus aktuelle politischen Entscheidungen abzuleiten. Dies gilt selbstverständlich unabhängig davon, ob Waffenlieferungen an einen Konfliktpartner nun aktuell geboten sein könnten oder nicht.

Im Falle des aktuellen Konflikts lässt sich zudem festhalten, dass deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine eine eher symbolische Bedeutung hätten. In Kiew fielen die deutschen Bestände angesichts der Rüstungshilfen aus den USA und anderer Nato-Staaten kaum ins Gewicht. Umso bedeutender wären sie für die russische Seite: Für Wladimir Putin wären sie ein propagandistisches Gottesgeschenk in seinen Bemühungen, den Westen als das abgrundtief Böse zu brandmarken – mit den alten Faschisten als Helfer eines Landes, das es nach seiner Lesart gar nicht geben dürfte.

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