Russisches Bild von Russland: In Parallelwelten
Den Blick, den Russ*innen auf ihr eigenes Land haben, hängt stark davon ab, ob sie im Land oder im Exil leben. Das hat auch viel mit Selbstschutz zu tun.
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M ehr als ein Jahr ist seit Kriegsbeginn vergangen, und in diesem Zeitraum wurde die Kluft zwischen den Russen, die gegangen und denen, die im Land geblieben sind, sichtbar. Und diese Kluft wird immer größer.
Ich spreche hier nicht von Gegnern und Befürwortern des Krieges, das wäre ja verständlich. Sondern ausschließlich über diejenigen, die weder das Putin-Regime noch den Überfall auf die Ukraine unterstützen. Ich spreche von Meinungen über Sicherheit, Gegenwart und Zukunft.
Diejenigen, die Russland verlassen haben, sind eher pessimistisch. Sie wundern sich nicht sonderlich über jedes neue, noch repressivere Gesetz, jede neue brutale Festnahme und Verurteilung. In der Duma spricht man über die Todesstrafe? Klar, die wird eingeführt, zweifelt daran jemand? Elektronische Einberufungen durch staatliche Stellen? 25 Jahre für den Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa? Und darüber wundert sich noch jemand?
Diejenigen, die im Land geblieben sind, sagen dagegen oft Dinge wie:“Moment mal, noch ist die Todesstrafe aber nicht eingeführt“, „man weiß nicht, wer da was in der Duma gesagt hat, aber der Gesetzentwurf ist noch gar nicht eingebracht worden“, „elektronische Einberufungen kann man ignorieren, es gibt noch gar kein entsprechendes Gesetz“. Sie operieren mit den früheren Begriffen von „Gesetz“, „Verfassung“, „Bürgerrechte“, über die die Emigranten nur höhnisch lachen können. Hat sich doch in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gezeigt, dass diese Worte langsam aber unaufhaltsam ihre Bedeutung verloren haben. Und heute nichts mehr bedeuten und absolut nichts mehr garantieren.
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Ich denke, es stimmt, dass wir Fortgegangen uns von der Realität entfernt haben. Aber was man unter „Realität“ versteht, muss man jetzt erst mal definieren.
Von der innerrussischen Realität haben wir uns tatsächlich entfernt. Diejenigen, die Russland verlassen haben, haben ihr Wissen über das Land jetzt durch die Nachrichten und durch das, was Freunde und Bekannte ihnen erzählen, also nur noch mittelbar. Und die Nachrichten über Russland sind jeden Tag voller Horror: Verhaftungen, Überwachung, Repressionen, Denunziationen, Sanktionen, Inflation, Mobilmachung, Prigoschin, Rekrutierungen, Terroranschlag im Zentrum von St. Petersburg, Todesstrafe – so könnte man unendlich weiter machen.
Wir haben jedoch keine direkten Eindrücke aus dem Land, und mittlerweile ist in Moskau Frühling. Die Menschen flanieren fröhlich auf den Uferpromenaden und den großen Straßen, Cafés und Bars sind voller Leute, die Läden voller Lebensmittel. Die Metro funktioniert besser als in Berlin oder New York. Arbeitslosigkeit gibt es offenbar keine und auf den Straßen sind weder Panzer noch Bären unterwegs. Der schreckliche Buchstabe Z ist kaum zu sehen.
Das Leben geht weiter, und für die Dagebliebenen besteht es nicht nur aus schrecklichen Nachrichten, sondern auch aus all den anderen Eindrücken der russischen Wirklichkeit. Und wenn ich meine Laptop zuklappe wegen all der Horrormeldungen, hinausgehe und das friedliche Rigaer Leben sehe, denke ich: „Gut, dass ich hier bin, in Sicherheit“. Während meine Kollegin in Moskau mit dem selben Horror ihren Laptop zuklappt, auf die Pokrowkastraße im Stadtzentrum tritt und denkt: „Es ist nicht alles schlecht, man kann leben“.
Es ist diese Kluft, über die ich rede. Und obwohl unsere beiden Realitäten gleich real sind, scheinen sie immer weniger kompatibel miteinander zu sein. Und damit habe ich die tragischen Folgen dieses schrecklichen Krieges schon erklärt.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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