Russische Propaganda: Putins Rache
Russlands Präsident Wladimir Putin knüpft an die Tradition des stalinistischen Staats an. Viele Russen lassen das geschehen, aber nicht alle sind farbenblind.
V or einem Jahr, Anfang 2022, hatten wir gerade erst begonnen, nach zwei schrecklichen Covidjahren Luft zu holen, und wir glaubten, dass allmählich eine Rückkehr zum normalen Leben beginnen würde. Alle stritten sich heftig über Impfungen und Impfstoffe, über das „Maskenregime“ und andere Verbote. Und vor allem – ob es notwendig sei, QR-Codes einzugeben, um Zugang zu einem Café, Theater oder einer Ausstellung zu erhalten.
Wo sind jetzt – zu Beginn des Jahres 2023, in der Welt nach dem 24. Februar 2022 – diese hitzigen Debatten geblieben? Und wo sind sie hin, die Probleme, die uns am wichtigsten erschienen? Sie wurden in den Hintergrund gedrängt, und alles wird jetzt von Wladimir Putins „Spezialoperation“ und ihren Folgen beherrscht.
Die Novaya Gazeta ist Russlands älteste unabhängige Publikation. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde sie verboten. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die die Invasion niemals akzeptieren werden. In diesem Dossier veröffentlicht die taz Texte russischer Journalist:innen über das erste Kriegsjahr und seine Folgen für die Welt und für Russland, über die Veränderungen in der russischen Bevölkerung, wofür das Adjektiv „russisch“ heute und in Zukunft steht, und berichten über Menschen, die Widerstand leisten. Die Texte sind auf Initiative der taz Panter Stiftung entstanden und geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Es ist bereits das zweite Dossier mit Texten der Novaya Gazeta Europe in der taz. Das erste ist im Mai 2022 erschienen. Die Texte des ersten Dossiers finden sich hier.
Das Wichtigste – abgesehen von dem Verlust an Menschenleben, den Katastrophen und der Zerstörung – ist der Zustand eines großen Teils der russischen Gesellschaft, der von einer politischen Farbenblindheit betroffen ist: es ist der Verlust – unter dem Einfluss ohrenbetäubender Propaganda – der Fähigkeit, Gut von Böse, Wahrheit von Lüge sowie Schwarz von Weiß zu unterscheiden.
Das passiert nicht zum ersten Mal: Unter dem Einfluss einer ähnlichen Art von Propaganda während der Sowjetzeit glaubten zig Millionen Menschen an die Existenz von „Volksfeinden“, „ausländischen Spionen“ und „Trotzki-Sinowjew-Mördern“. (Leo Trotzki und Grigori Sinowjew waren marxistische Theoretiker und führend in der Russischen Revolution. Unter Stalins Herrschaft fielen sie in Ungnade. Trotzki wurde im Exil von einem sowjetischen Agenten ermordet, Sinowjew in Moskau hingerichtet; d. Red.)
Böse Nato
Die Menschen glaubten daran, dass die böse Nato 1968 die Tschechoslowakei einnehmen wollte und nur der Einmarsch von Truppen aus den Ländern des Warschauer Pakts diesen heimtückischen Plan vereitelte. Sie glaubten, dass es notwendig war, 1979 ein „begrenztes Kontingent“ sowjetischer Truppen nach Afghanistan zu schicken, damit nicht die USA das Land einnahmen. Und sie glaubten daran, dass der Physiker Andrei Sacharow ein „Verräter“ war, der Schriftsteller Alexander Solschenizyn ein „Verleumder des Sowjetsystems“ und der Dichter Joseph Brodsky ein „Parasit“.
Derartiges geschah natürlich auch in den postsowjetischen Jahren. So glaubten viele, dass der demokratische Präsident Boris Jelzin im Herbst 1993 die Rebellion des reaktionären und „rotbraunen“ Parlaments niedergeschlagen hatte. Oder sie glaubten, dass die Revolte im Donbass im Frühjahr 2014 nicht von aus Russland entsandten Interventionisten ausgelöst wurde, sondern von „zur Verzweiflung getriebenen Bergarbeitern und Traktorfahrern“, die Waffen und Ausrüstung im nächstbesten Militärgeschäft gekauft hatten.
Aber so etwas wie nach dem 24. Februar 2022 hat es noch nicht gegeben. Anscheinend haben wir sowohl die Fähigkeit (und den Wunsch) der Bürger, unabhängig nach Informationen zu suchen, als auch die Macht der Propaganda falsch eingeschätzt.
Täglich wird ein und dasselbe gepredigt: Russland ist am besten, deshalb hassen alle das Land und versuchen es zu schwächen. Wenn ein gewöhnlicher Mensch anfängt, solche Dinge zu wiederholen – dass er der Beste sei und deshalb jeder ihn hasse –, wird er als schwer krank angesehen und zu einem Arzt geschickt. Und wenn Beamte, Abgeordnete und Propagandisten jeden Tag märchenähnliche Geschichten erzählen („Wissen Sie etwa nicht, dass alle anderen nichts taugen, aber wir großartig sind?“), wird dies als etwas ganz Selbstverständliches hingenommen.
Keine ukrainische Sprache
Das gilt auch für Argumente, dass die Ukraine gar kein Staat sei und es keine ukrainische Sprache gebe, sondern nur ein verzerrtes Russisch. Dass in der Ukraine „Nazis“ und „Bandera-Leute“ an der Macht seien. Dass die Nato einen Angriff auf Russland plante und Putin ihnen nur wenige Stunden voraus war.
Dass die USA und andere europäische Länder „die Nazis mit Waffen versorgen, wie während des Großen Vaterländischen Krieges – ihre Väter und Großväter“ (ich stelle fest: Die Erwähnung der Anti-Hitler-Koalition wurde noch nicht aus den Geschichtsbüchern entfernt). Dass Russland in seiner Geschichte „niemals jemanden angegriffen hat“ (auch hier wurden Verweise auf die vielen Kriege, die das Russische Reich begonnen hat, noch nicht aus Lehrbüchern und Büchern entfernt).
Es sei daran erinnert, dass die Politik, die auf angeblich „historischen Rechten“ basiert und im Namen der Rückgabe „historischer Territorien“ gemacht wird, kurz und deutlich als Revanchismus zu bezeichnen ist. Jedoch genau das ist die Art von Politik, die von Putins Regierung verfolgt wird. Sie geht persönlich vom Präsidenten aus, der von der Idee besessen ist, das ehemalige Sowjetimperium (oder zumindest den größten Teil davon) wiederzubeleben.
Wie in dem Roman „Die bewohnte Insel“ der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki. Dort wurde mit den ehemaligen Provinzen eines alten Reiches, Khonti und Pandeya, die in schwierigen Zeiten ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, wie folgt verfahren: Es galt „die Bastarde zurückzubringen, nachdem sie schwer bestraft worden waren“.
Hoffnungslos veraltet
Diese Idee ist offensichtlich aussichtslos – kein einziges zusammengebrochenes Imperium konnte sich später auch nur teilweise erholen. Darüber hinaus ist das im 21. Jahrhundert hoffnungslos veraltet, wo die wichtigste Ressource für Entwicklung und die Grundlage der Wettbewerbsfähigkeit nicht Territorien, sondern Köpfe sind – intellektuelles und wissenschaftliches Potenzial.
So würde man beispielsweise in Großbritannien einen Politiker für verrückt erklären, der ernsthaft über „historische Rechte“ auf dem Territorium des ehemaligen Imperiums redete und anböte, sie „in ihren Heimathafen zurückzubringen“. Oder der sich in einem fremden Land für den „Schutz englischsprachiger Bürger“ einsetzen würde, indem er die „britische Welt“ mit Gewalt dorthin bringt. Oder der sagte, dass „die Grenzen Großbritanniens nirgendwo enden“. Gleiches gilt für andere ehemalige Imperien wie Frankreich, Deutschland oder die Türkei.
Auch in Litauen fordert niemand, der bei klarem Verstand ist und ein gutes Gedächtnis hat, die Ausdehnung auf die Grenzen des Großfürstentums Litauen. Dieses erstreckte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
Nun spricht Präsident Wladimir Putin in seiner Neujahrsansprache vom Schutz „seines Volkes“ in „historischen Territorien“ (wie erwähnt, gehörten sie nie zu den Vorgängern des heutigen Russlands). Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft argumentiert jedoch bereitwillig im Sinne dieses Mainstreams.
Erbärmliche Renten
Es ist offensichtlich egal, dass es Häuser ohne Gas und Anschluss an die Kanalisation gibt, erbärmliche Renten und Arbeitslosigkeit, kaputte Straßen und undichte Dächer. Alle sind überwältigt von einem Gefühl des Stolzes über die „Rückgabe“ dessen, was ihnen nie gehört hat. Und es herrscht eine böswillig spöttische Freude darüber, dass es in den Städten der Ukraine kein Licht und keine Heizung gibt.
Über eine weitere schwere Krankheit sprach Jan Ratschinski, als er 2022 den Friedensnobelpreis für Memorial entgegennahm: die Sakralisierung der Staatsmacht als höchsten Wert, die Proklamation des absoluten Vorrangs dessen, was diese Macht als „Staatsinteressen“ ansieht, die dem Einzelnen, seiner Freiheit, Würde und seinen Rechten übergeordnet sind. Ein verkehrtes Wertesystem, in dem Menschen nur entbehrliches Material zur Lösung staatlicher Probleme sind.“
Deshalb wird öffentlich erklärt, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, es um des Staates willen aufzugeben, obwohl der Sinn des Lebens nur die Fortsetzung des Lebens sein kann und nicht der Tod für den Staat und dessen Interessen. All dies ist eine absolute Blaupause der Grundlagen des stalinistischen Polizeistaats, wo der Mensch immer ein „Rädchen“ und „Staub unter den Füßen“ war. Und wo das Leben keinen höheren Sinn hatte, als es für den Staat zu opfern.
Aber glücklicherweise ist nicht jeder in der russischen Gesellschaft von diesen Krankheiten befallen. Die Mehrheit, um mit dem russischen Politiker und Menschenrechtler Lew Schlosberg zu sprechen, „bewahrt in unmenschlichen Zeiten das Menschliche in sich“.
Sie bewahrt sich die Fähigkeit zu Empathie und Solidarität. Sie baut horizontale Strukturen auf, um Bedürftigen zu helfen. Sie hilft Flüchtlingen und politisch Verfolgten. Sie verteidigt ihre Bürgerrechte, fordert Frieden und Freiheit. Sie gibt den Lügen des Staats und der militaristischen Propaganda nicht nach und lässt dieses Gift nicht in ihre Seele eindringen. Und sie hilft anderen, sich dagegen zu wehren. Dies, und nur dies, gibt Hoffnung, dass die Dunkelheit verschwindet und die Morgendämmerung anbrechen wird.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour