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Russische Luftangriffe auf die UkraineLeben unter Dauerbeschuss

Tag für Tag greift Russland die Millionenstadt Charkiw an. Unser Autor lebt dort und erzählt von einem Alltag ohne Strom und unter Dauerbeschuss.

In einem Wohngebiet von Charkiw nach Beschuss mit russischen Gleitbomben am vergangenen Sonntag Foto: Ivan Samoilov/getty images

Charkiw taz | Dmytro ist mental am Ende, aber für ein paar ironische Bemerkungen reicht seine Kraft gerade noch: „Man darf keine russischen Ölraffinerien angreifen. Und Taurus-Marschflugkörper sind nicht notwendig. Damit es um Gottes Willen keine Angriffe auf Moskau damit gibt. Man darf Putin ja jetzt nicht provozieren – sonst greift er am Ende noch an. Was, er hat schon angegriffen? Na ja, okay, wir schicken euch 100.000 Verbandskästen. Moralisch stehen wir aber auf eurer Seite, stark und unverbrüchlich.“

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Am 22. März hat die russische Armee mehr als 20 Raketen auf zwei Heizkraftwerke im Charkiwer Gebiet und auf drei große Umspannwerke in der Stadt selbst abgeschossen, und damit praktisch die komplette Energieversorgung der Region zerstört. Entsprechend befindet sich die Stadt, die mit 1,5 Millionen Einwohnern etwa so groß wie München ist, schon seit drei Wochen in einer Art Halbdunkel. Eine schnelle Lösung bei der Energie ist nicht in Sicht. Denn allen ist klar, dass es einfach sinnlos wäre, die Energieanlagen bei einem fast völligen Fehlen einer ernstzunehmenden Luftabwehr wieder instand zu setzen.

„Ich kann jetzt nicht nach Hause zurück, weil es in unserem Zuhause kein Licht mehr gibt. Mit zwei Kleinkindern kann man dann einfach nicht leben“, klagt Lilija, 35-jährige Mutter, die wegen des Beschusses gezwungen war, in einen Vorort umzusiedeln. Sie erzählt, dass es in ihrer Stadtwohnung weder Gas noch warmes Wasser gibt. Im März war auch die Heizung ausgefallen. Die Russen haben Bedingungen geschaffen, die das Leben mit kleinen Kindern in Charkiw unmöglich machen.

Deshalb müssen Familien jetzt getrennt leben, wie schon zu Beginn des Großangriffs vor zwei Jahren. Die Männer bleiben zum Arbeiten in der Stadt, während die Frauen versuchen, mit den Kindern eine etwas sicherere Wohnmöglichkeit außerhalb zu finden. „Sie verjagen die Kinder quasi aus Charkiw, sie nehmen der Stadt damit ihre Zukunft“, meint Lilija.

Bomben, die in jede Ecke der Stadt fliegen können

Außer Einrichtungen der Energieinfrastruktur beschießen die russischen Streitkräfte in Charkiw jetzt auch Wohngebiete mit Raketen. Am 27. März kam es zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu einem Angriff mit Gleitbomben, also einfachen Fliegerbomben, die mit Flügeln und einem rudimentären Navigationssystem nachgerüstet wurden und die nach dem Abwurf durch Kampfjets bis zu 40 Kilometer selbstständig zum Ziel gleiten. Das verschlechtert die Sicherheitslage in Charkiw massiv, weil die Bomben quasi in jede Ecke der Stadt fliegen können.

Die Zerstörungskraft dieser russischen Waffen ist aktuell ebenso groß wie die Straffreiheit für deren Einsatz. Die russischen Piloten fliegen bis an die Stadtgrenze und werfen von dort die Bomben ab, sehr häufig auf Wohngebiete. In den letzten zwei Wochen sind durch russischen Beschuss Dutzende Zivilisten verwundet und einige getötet worden, darunter ein 14-jähriger Teenager.

„Seit sie Charkiw mit Gleitbomben beschießen, ist es wirklich furchtbar geworden, noch in die Stadt zu fahren. Man weiß absolut nicht, wohin sie fliegen“, sagt Lilija und fügt hinzu, dass eine dieser Bomben auf einer Distanz von nur 150 Meter an ihrer Charkiwer Wohnung vorbeigeflogen ist. Die Detonation zerstörte die Balkontür.

Oksana, eine 29-jährige Verkäuferin, sagt, sie selbst leide nicht so sehr unter Stromausfällen, weil sie bei der Arbeit Generatoren habe. Für die Kinder hingegen gibt es ohne Strom keinen Schulunterricht mehr, denn der war ja schon lange online. „Der Schulunterricht wird dadurch stark beeinträchtigt. Das macht mir eigentlich am meisten Sorgen. Die Lehrerin reagiert sehr flexibel, versucht den Unterricht entsprechend zu verschieben, aber das Problem bleibt“, sagt Oksana.

Ein Leben unter ständiger Anspannung

Die Verschärfung der Angriffe hat Oksana wohl bemerkt, aber ihr Verhalten ändert sie deswegen überhaupt nicht. Absichtlich hat sie keine Telegram-Kanäle abonniert, die über Raketenabschüsse oder Fliegerbomben auf Charkiw informieren. Es mache sie müde und ängstlich, sie wolle nicht mehr unter dieser ständigen Anspannung leben. Sie hat auch nicht vor, Charkiw zu verlassen, weil sie ja einen Job in der Stadt hat.

Oleksandr arbeitet als Dreher in einer der großen Charkiwer Fabriken. Der 27-Jährige weiß, dass die russischen Streitkräfte am 9. April sein Werk mit zwei Fliegerbomben beschossen und dabei Werkstätten zerstört haben. Einige seiner Kollegen wurden verletzt. „Ich habe echt am Geräusch erkannt, dass das keine Raketen waren. Raketen klingen ganz anders. Wenn es jetzt Luftalarm gibt, suche ich sofort irgendwo Schutz. In einem Hauseingang, einer Grube, irgendwo. Jeder hier erlebt das ja unterschiedlich, aber wir alle müssen uns jetzt öfter in Sicherheit bringen“, sagt er.

Gleichzeitig ist Oleksandr auch sehr besorgt über den Beschuss der Energieinfrastruktur von Charkiw. „Nach einem der Bombardements hatte ich über einen Monat lang kein Gas. Erst seit kurzem geht es wieder. Ständig Fast Food, das kostet viel mehr, als selber zu kochen. Und es drückt auf die Moral. All diese Abschaltungen und Blackouts, dazu der Beschuss“, bekennt er. Aber auch er hat nicht vor, Charkiw zu verlassen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich so was mal sagen würde, aber ich will zur Arbeit gehen. Ich will noch nicht weg. Charkiw gefällt mir, es ist cool hier. Ob was durch die Luft fliegt oder nicht, hier kommt meine Seele zur Ruhe. Wenn ich irgendwo anders hingehe, kommen neue Probleme und Aufgaben auf mich zu. Ich werde nicht fortgehen“, sagt der 27-Jährige.

Hoffen auf Flugabwehrsysteme aus Europa

Die Menschen möchten in Charkiw leben, obgleich Russland immer neue Anstrengungen unternimmt, um alle lebenserhaltenden Systeme der Stadt zu zerstören. Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kam am 9. April persönlich nach Charkiw und versicherte, dass die Regierung daran arbeite, Flugabwehrsysteme aus Europa zu bekommen.

In der Tat müsste Europa dazu in der Lage sein, wie EU-Chefdiplomat Josep Borrell diese Woche beim Europäischen Nueva Economia Forum in Barcelona ausführte. „Ich habe vor einigen Tagen mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba gesprochen, und er bat dringend um sieben Patriot-Flugabwehrsysteme zur Verteidigung seines Landes.

Es kann kein überzeugendes Argument sein, dass wir sie nicht bereitstellen können, wenn man bedenkt, dass die europäischen Armeen etwa hundert solcher Systeme haben. Und trotzdem sollen wir keine sieben davon liefern können, obwohl sie so eindringlich darum bitten?“, sagte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.

„Die Ukrainer sind nicht in der Lage, die Zerstörungen zu verhindern. Wir müssen schneller mehr tun, damit sie dazu in die Lage versetzt werden

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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1 Kommentar

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  • Wie wäre es mal mit folgender roter Linie?



    - NATO-Truppen beschützen Krankenhäuser und zivile Infrastruktur in der Ukraine



    - ein Angriff wird als Angriff auf die NATO gewertet.



    Nicht, dass ich das für realistisch oder gar wünschenswert halte, aber: warum diene die roten Linien bei uns nur zur Selbstabschreckung?



    Warum setzt man dem russischen Terrorregime keine Grenzen?

    Realistischer wäre vielleicht folgendes:



    - Wiederherstellung der Abschreckung.



    - Ultimatum an Russland, die Angriffe auf zivile infrastruktur einzustellen



    - Bei Nichtbefolgung Ertüchtigung der Ukraine zu symmetrischen Angriffen auf russische Infrastruktur.