Russische Comic-Künstlerin über ihr Exil: „Ich zeichne gegen Putin an“
Regimekritische Russen erfahren im Ausland kaum Unterstützung. Victoria Lomasko spricht über die Gründe für ihre Flucht.
Wie so viele andere Künstler:innen hat Victoria Lomasko Russland nach Ausbruch des Ukrainekriegs verlassen. Die Comic-Künstlerin ist bekannt für ihre politischen, oft ironischen Zeichnungen der russischen Alltagswelt. Veröffentlichen konnte sie diese in ihrem Heimatland wegen ihrer regimekritischen Haltung schon seit Jahren nicht mehr.
taz am Wochenende: Frau Lomasko, Sie haben das Land sofort verlassen, als Sie vom Ausbruch des Krieges erfuhren. Warum?
Victoria Lomasko: Russland zu verlassen wird von Tag zu Tag schwieriger. Russen können problemlos nur in zentralasiatische Länder, nach Armenien, Serbien, die Türkei oder die Vereinigten Arabischen Emirate ausreisen. Als der Krieg ausbrach, hatte ich kein Visum, aber mir war sofort klar, dass ich unmöglich mit meiner regimekritischen Arbeit in Russland bleiben konnte. Die Behörden stufen gerade kritische Stimmen reihenweise als „ausländische Agenten“ ein, und es war nur eine Frage der Zeit, bis mein Name ebenfalls auf dieser Liste stehen würde.
Durch die Sanktionen und den Fall des Rubels habe ich fast meine gesamten Ersparnisse verloren. So konnte ich mir nur ein Ticket nach Bischkek in Kirgistan leisten, wo ich bereits gearbeitet habe. Ich liebe das Land. Außerdem war mir klar, dass die meisten Menschen wahrscheinlich nach Armenien oder Georgien fliehen würden und dass die Regierung das nicht so einfach zulassen würde. In der Nacht, in der ich Russland verließ, wurden fast alle Flüge nach Eriwan gestrichen. Das war ein schlechter Scherz der Regierung, denn auch sie wusste, dass die Leute nach Armenien fliegen würden.
Wie ging es von Kirgistan aus weiter?
geboren 1978 in Serpuchow in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Lomasko ist Künstlerin und Kuratorin und zeichnete mit der grafischen Gerichtsreportage „Verbotene Kunst“ (2013) eine der ersten Graphic Novels Russlands. Zuletzt erschien von ihr „Other Russias“ (2017).
Ich hatte großes Glück. Vor dem Krieg begann eine belgische Produktionsfirma, einen Dokumentarfilm über mich und die Situation in Russland zu drehen. Sie planten bereits, mich nach Brüssel einzuladen, um die Dreharbeiten hier zu beenden: Nach Kriegsausbruch war ihnen schnell klar, dass die Hauptfigur des Films auf längere Zeit in Russland festsitzen würde, deshalb versuchten sie sofort, ein Visum für mich zu bekommen. Es gab Probleme mit der belgischen Botschaft, also bekam ich ein französisches Visum, nur Stunden bevor ich in den Flieger stieg. Frankreich ist ein Land, das politische Kunst schätzt.
Fliehen die meisten Russen, weil sie um ihre eigene Sicherheit besorgt sind, oder ist es eher ein Ausdruck von Protest?
Als ich in Brüssel ankam, fühlte ich mich, als hätte ich den Mars verlassen und wäre auf der Erde angekommen. Aufgrund der Pandemie konnte ich zwei Jahre lang Russland nicht verlassen, weil es bei uns keine international zugelassenen Impfstoffe gibt. Diese zwei Jahre waren nicht einfach. Putins Regime hat ein repressives Gesetz nach dem anderen erlassen. Sie haben nicht einmal nach einem Vorwand für die neuen Regeln gesucht! Die ganze Welt fragt sich jetzt, warum die Russ:innen nicht auf die Straße gehen, um gegen diesen Krieg zu protestieren.
Das liegt daran, dass unsere Gesellschaft tief gespalten ist, in eine junge und eine alte, sowjetische Generation, in Menschen, die gegen und für Putin sind. Viele Menschen sind zudem unpolitisch. Unabhängige Stimmen finden bei uns kaum Gehör. Nur schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Russen sind gegen Putin und den Krieg in der Ukraine. Als ich aufwachte und von der Invasion in der Ukraine las, wusste ich sofort, dass Russland ein abgeriegeltes faschistisches Land sein wird.
Wie frei konnten sich Künstler:innen vor dem Krieg äußern?
Aufgrund der strengen Zensur habe ich in Russland viele Jahre lang keine meiner Arbeiten veröffentlicht oder in Ausstellungen gezeigt. Während der Pandemie habe ich an meinem neuen Buch „The Last Soviet Artist“ gearbeitet, in dem ich alle politischen Veränderungen in Moskau während der letzten Jahre darstelle: Proteste, Repressionen, Verfassungsänderungen. Obwohl es natürlich nicht auf Russisch erscheinen wird, hätte ich nach der Veröffentlichung ohnehin nicht in Russland bleiben können.
Ein anderes Beispiel: Mein letztes Buch „Other Russias“ wollten wir in Russland veröffentlichen. Juristen, die ich nach ihrer Einschätzung gefragt habe, sagten, dass die Veröffentlichung meinem Verleger und mir ein paar Jahre Gefängnis einhandeln würde. Also ist diese Idee gestorben. Ich bitte niemanden mehr darum, meine Arbeit auszustellen oder zu veröffentlichen.
Die derzeitige Emigrationswelle wird mittlerweile mit der Abwanderung im Zuge der Russischen Revolution verglichen, als viele Intellektuelle und Künstler das Land verließen. Finden Sie diesen Vergleich angebracht?
Nicht wirklich. Als die Menschen damals das Land verließen, erhielten viele als Dissidenten Unterstützung im Ausland. Jetzt werden Russen überall nur noch boykottiert. Ich meine, ich bin jetzt in Belgien, aber wie geht es weiter? Ich habe kein Geld, ich kann kein Bankkonto eröffnen, mein Visum läuft aus. Es gibt eine Menge Diskriminierung gegen Menschen mit russischem Pass. Keiner will im Moment Russen bei sich haben.
Können Sie es nachvollziehen, wenn ukrainische Künstler momentan russische Kunst boykottieren?
Ich kann und will die Ukrainer nicht kritisieren. Sie leiden sehr, sie können sagen, was sie wollen, und ich werde es akzeptieren. Aber was den Rest der Welt angeht … Ich habe eine Freundin, eine russische Regisseurin. Sie muss jeden Tag lesen, dass russische Regisseure von weiteren Festivals oder Filmplattformen ausgeschlossen werden, unabhängig von ihrer politischen Meinung. Dieser Boykott macht keinen Sinn.
Welche Möglichkeiten zum Protest bleibt russischen Künstler:innen im Land noch?
Sie können ihre Türen verschließen und Bilder für sich selbst malen und sie sehr engen Freunden zeigen. Sogar die sozialen Netzwerke sind ja jetzt als extremistische Organisationen gelistet, so dass man seine Kunst kaum mit der Welt teilen kann, selbst wenn man es sich trauen würde. Schon vor dem Krieg war es extrem schwierig, in Russland politische Kunst zu machen. Ich konnte das nur tun, weil ich in Russland absolut unsichtbar war. Im Moment ist jeder, der gegen den Krieg in der Ukraine ist, in Russland sehr sichtbar.
Werden Stimmen aus dem Ausland innerhalb Russlands gehört?
Ich zeichne und schreibe jeden Tag gegen das Putin-Regime an, seit ich Russland verlassen habe. Schlafen tue ich kaum. Aber Putin und den Krieg zu kritisieren, wenn man außerhalb Russlands ist, ist so einfach wie atmen. Das Problem ist, dass die Zahl derer, die gegen Putin sind, sehr klein ist. Und die Sanktionen, die durch den Krieg verhängt wurden, haben es für diese Gruppe noch schwieriger gemacht. Ich spreche nicht von den Sanktionen gegen die Regierung, die Banken und die Oligarchen, sondern von jenen, die die Russen von der Außenwelt abschneiden. Zahlungsdienstleister und westliche Medien, die ihre Tätigkeit in Russland einstellen, der Boykott russischer Kultur.
Was muss sich ändern, damit mehr Menschen protestieren?
Man fühlt sich in Russland alleingelassen. Ich kenne Leute, die immer noch auf der Straße protestieren, sie werden verhaftet und von der Polizei verprügelt. Für mich sind sie Helden. Diese Menschen brauchen emotionale Unterstützung aus dem Ausland. Versuchen Sie selbst einmal, allein oder mit zehn anderen auf die Straße zu gehen und zu protestieren, obwohl Sie wissen, dass Sie dafür verhaftet werden. Viele Menschen, die Putin unterstützen, wissen nichts von der Außenwelt, sie haben noch nie westliche Länder besucht und haben keine Berührungspunkte mit westlichen Menschen. Sie sehen die gegen Russland verhängten Sanktionen und glauben Putin aufs Wort, dass der Westen der Feind ist.
Übersetzung aus dem Russischen mit Unterstützung von Peter Isachenko
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen