Russisch besetzte Gebiete der Ukraine: Folter mit Stromstößen
In Charkiw haben russische Besatzer inoffizielle Gefängnisse eingerichtet – und dort gezielt ehemalige ukrainische Soldaten gefoltert. Opfer berichten.
Im September 2022 war es der ukrainischen Armee gelungen, innerhalb weniger Wochen einen großen Teil des Gebietes Charkiw von der russischen Besatzung zurück zu erobern. Im Anschluss wurden in fast allen befreiten Städten und Dörfern Foltereinrichtungen und inoffizielle Haftanstalten für ukrainische Staatsbürger gefunden, so auch in der Kleinstadt Schewtschenkowe bei Kupjansk.
An zwei Orten hielten die russischen Besatzer hier Menschen gefangen: im örtlichen Polizeirevier und im Keller des Wehramtes. Meistens waren es einheimische Kollaborateure, die Menschen festnahmen, schlugen und sich über sie lustig machten. Angeleitet dazu wurden sie jedoch von den russischen Besatzern, die sich dabei auch besonders grausam verhielten.
Russische Besatzer, ukrainische Kollaborateure
Als Kollaborateure gelten im Krieg in der Ukraine heute diejenigen ukrainischen Staatsangehörigen, die die russische Besatzungsmacht aktiv unterstützen, mit ihnen kommunizieren und ihnen bei der Umsetzung ihrer Pläne helfen.
Besonders im Visier stehen bei ihnen jetzt ehemalige ukrainische Soldaten, die an den Einsätzen der ukrainischen Streitkräfte gegen die von Russland unterstützten Donezk- und Luhansk-Separatisten ab 2014 beteiligt waren – die „Anti-Terror-Operation“ (ATO) beziehungsweise ab 2018 die „Operation der Vereinten Kräfte“ (OOS). Sergei war während seiner Dienstzeit bei der ATO Flugabwehrschütze und Artillerieaufklärer gewesen.
Schewtschenkowe, ein Ort mit 7.000 Einwohnern, war nur einer von vielen Orten im Gebiet Charkiw, die zu Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine ab 24. Februar 2022 an die russischen Besatzer fielen. Am 27. Juli 2022 wurde Sergei bei einem Spaziergang mit seinem Hund im Kulturpark von Schewtschenkowe festgenommen.
Es waren, so sagt er, ukrainische Kollaborateure, die ihn festnahmen: der Leiter des provisorischen Gefängnisses namens Jusifow, der Leiter der Bezirkspolizei, Michalew, sowie ein Mann namens Artjom Lesowoj. Eine rechtliche Grundlage für Sergeis Festnahme gab es nicht. Die Männer hatten Listen aller ehemaligen ATO-Angehörigen, deshalb hatten sie auch nach Sergei gesucht.
Sie folterten, um an Informationen zu kommen
„In meine Zelle kam dann ‚Virage‘, ein Russe, der der Kommandeur der Besatzungstruppen in Schewtschenkowe war, sowie ein Russe namens ‚Mjasnik‘ (Metzger), dem wir den Spitznamen ‚Habib‘ gegeben hatten, weil er wie ein Tschetschene aussah. ‚Virage‘ fragte mich, was ich bei der ATO gemacht habe. Ich antwortete, dass ich an Checkpoints gestanden hätte.
Sergei, Gefangener in Schewtschenkowe
Er glaubte mir aber nicht, zog eine Pistole, nahm das Magazin heraus, ließ eine Kugel darin und sagte: ‚Da, schieß!‘ Und ich so: ‚Du willst das doch, also schieß selber. Ich habe keine Suizidabsichten.‘ Dann rief er nach dem ‚Metzger‘.
Der kam herein und befahl mir, die Hände auf den Tisch zu legen. Das tat ich, und er begann, mit einer Eisenstange so stark darauf einzuschlagen, dass Stücke meiner Finger abflogen. Meine Hände waren geschwollen, zwei meiner Rippen waren gebrochen. Blutüberströmt warfen sie mich in die Zelle zurück“, erinnert sich Sergei. Während er erzählt, werden seine Augen feucht, er beginnt zu zittern.
Am folgenden Tag, dem 28. Juli, ging die Gewalt gegen den ehemaligen ATO-Kämpfer weiter. Die Kollaborateure folterten ihn, versuchten, Informationen über eine Brigade zu bekommen, mit der Sergei aber gar nichts zu tun gehabt hatte.
Folter mit Kühlmittel und Strom
„Sie folterten mich mit Stromstößen. Hier sieht man die Verbrennungen, und hier sind Narben zurückgeblieben.“ Sergei zeigt auf einige runde vernarbte Stellen am Unterarm, an der Schulter und am Oberkörper. „Sie haben mich mit dem Kühlmittel Freon übergossen, die Blasen davon sind anschließend aufgeplatzt. Das war Artjom Lesowoj, der mochte mich aus irgendeinem Grund überhaupt nicht. Er ist von hier, ein Mann aus Schewtschenkowe. Auch einer, der Mamon hieß, hat mich geschlagen.“
Sergei erinnert sich noch, dass in der Zelle mit Platz für vier Personen im Keller des Wehramtes 32 Menschen gefangen gehalten wurden, darunter auch einige ehemalige ATO-Kämpfer. „Sie wurden auch mit Strom gefoltert und dazu befragt, wo sich die ukrainischen Soldaten befinden. „‚Du musst wissen, wo Soldaten sind, wo sich Armeeeinheiten befinden, wo du selber ausgebildet wurdest‘ und so weiter. Sie drohten mit Erschießung. Sagten, sie würden mich unter einen Panzer stoßen. Aber ich wusste wirklich nichts. Sie schlossen auch meinen Penis an ein Stromkabel an“, berichtet Sergei.
Nach einigen Tagen der Folter schickten sie Sergei zu einem sogenannten Arbeitseinsatz in die nahegelegene, damals ebenfalls russisch besetzte Stadt Kupjansk. Er blieb dort 45 Tage. Im August 2022 traf eine ukrainische Rakete das Zollgebäude in Kupjansk, wo russische FSB-Einheiten stationiert waren. Dort, so erzählt Sergei, starben rund 170 russische Soldaten. Er erinnert sich, dass die russischen Besatzer eine Liste mit allen Toten erstellten und auf dieser etwa 170 Namen aufgeführt waren.
Sergei hat selber einige ehemalige ATO-Kämpfer gesehen, die die Besatzer und ihre Kollaborateure mit Stromstößen gefoltert und mit Wasser übergossen hatten. Sie ließen die Gefangenen weder essen, trinken noch schlafen.
Leere Versprechungen für Verrat
Der Brutalste von allen, so Sergei, sei der „Metzger“ gewesen. „Sie wollten, dass wir die Seiten wechseln. Sie fragten, wer in der Armee gedient habe, wer in der ATO gewesen sei. ‚Kommt auf unsere Seite, dann wird es euch gutgehen.‘ Nur einer hat sich darauf eingelassen. Sie boten uns festes Gehalt, ein Haus, ein Auto. Sie boten mir an, Zugführer zu werden, Kompanieführer. Ich bin nicht übergelaufen. Ich habe gemerkt, dass es eine Täuschung war“, sagt er.
In Kupjansk konnte Sergei schließlich fliehen, als ein Aufseher gerade mit seiner Ehefrau telefonierte. „Sie sind Unwesen. Jedes Tier ist besser als sie“, beendet Sergei seine Erzählung.
Schewtschenkowe wurde schließlich am 8. September 2022 durch ukrainische Truppen befreit. Dort gelang es jetzt der taz, einige der von den Russen gefolterten und illegal Inhaftierten zu befragen. Sergeis Worte über die besondere Grausamkeit von Russen und ihren Kollaborateuren gegenüber ehemaligen ATO- und OOS-Angehörigen werden von Artur, einem 39-jährigen Elektriker, und Ilja, einem 45-jährigen Wirtschaftswissenschaftler, bestätigt. Beide wurden ebenfalls unter Vorspiegelung falscher Tatsachen festgenommen, im Gefängnis festgehalten und dann zum öffentlichen „Arbeiten“ in Schewtschenkowe zu gezwungen.
Bis zu 13 Gefangene in einer Zweier-Zelle
Artur war vier Tage in einer Zelle eingesperrt. „Ich wurde von Jusifow, Mamon und Larionow geschlagen. Sie schlugen einfach zu. Ich habe da noch gar nicht begriffen, was sie von mir wollten“, erzählt er. „Ich habe mit sechs anderen von uns draußen in einem Käfig geschlafen. Manchmal kam Mamon nachts mit seinem Maschinengewehr vorbei und zielte mal auf den Boden, mal in die Luft.“
Artur erzählt, dass in einer Zelle für zwei Personen, die im örtlichen Polizeirevier eingerichtet worden war, 9 bis 13 Gefangene untergebracht waren. Er erinnert sich, dass der Kollaborateur Jusifow sich über sie lustig machte und die Gefangenen mit einem Eisenrohr schlug.
Der Kollaborateur Mamon holte die Leute nachts aus der Zelle, feuerte mit einer Schusswaffe herum, um den Häftlingen Angst zu machen. Außer von ukrainischen Kollaborateuren wurden sie auch von dem Russen „Habib“ gefoltert, der immer eine Sturmhaube trug.
Juristische Verfolgung ukrainischer Kollaborateure
Nach der Befreiung wurden in der gesamten Region Charkiw Kollaborateure entdeckt. Nach Angaben des Leiters der Strafverfolgungsbehörde GBR in Poltawa, Denys Mankowsky, wurden in Schewtschenkowe neun Strafverfahren gegen ehemalige ukrainische Ordnungskräfte eröffnet, die zum Feind übergelaufen waren. Er sagt, dass die ukrainischen Ermittler nicht nur örtliche Kollaborateure, sondern auch russische Soldaten ausfindig machen, die ebenfalls Kriegsverbrechen in sämtlichen Orten der Region Charkiw begangen haben.
Gegen ehemalige ATO- und OOS-Kämpfer seien diese besonders grausam vorgegangen – „weil es ihre Feinde sind“, so Mankowsky. „Wir sehen alle sehr gut, dass die Russen sich eine Art dämonisches Bild von ukrainischen Nationalisten gemacht haben, was ihrer Überzeugung nach wirklich existiert. Aber wir verstehen auch, dass dieses Bild ein Mythos ist. Und dass sie zu diesen Nationalisten auch die früheren ATO-Kämpfer zählen. Deshalb haben sie so gründlich nach ihnen gesucht.
Sie haben verstanden, dass es diese Leute sind, die Sabotageakte gegen Soldaten der Russischen Föderation und gegen Objekte der russischen Streitkräfte begehen können. Ehemalige Kämpfer von ATO und OOS könnten andere Protestformen organisieren, weil sie schon an direkten Kampf- und Kriegshandlungen teilgenommen haben und über bestimmte Fähigkeiten verfügen, sodass sie, sagen wir mal, in aller Ruhe für das Wohl der Ukraine arbeiten konnten. Darum ist es nur logisch, dass sie diese Menschen ausfindig gemacht haben und sofort illegale Methoden der Inhaftierung, Folter und sogar Hinrichtung gegen sie eingesetzt haben“, erklärt GBR-Leiter Denys Mankowsky.
Bis zum 1. September 2023 wurden acht Strafverfahren gegen Polizeikollaborateure in Schewtschenkowe an die Gerichte weitergeleitet. Von den Angeklagten befindet sich ein Kollaborateur derzeit in Haft, die anderen werden wohl in Abwesenheit verurteilt. Nach allen wird gefahndet, ein besonderes Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet. Alle werden in Abwesenheit verdächtigt, alle werden gesucht, da sie sich auf russischem Staatsgebiet verstecken.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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