Gespräch mit ukrainischem Justizminister: „Wir sammeln Beweise“

Kriegsverbrechen in der Ukraine sollen nicht ungesühnt bleiben, sagt Justizminister Denys Maljuska. Auch die Korruptionsbekämpfung im Land sei wichtig.

Zwei Männer gehen mit Tüten beladen aus einem schwer beschädigten Haus

Die russische Armee bombardierte Ende November Wohnviertel der Stadt Vyshgorod Foto: Efrem Lukatsky/ap

Ende November trafen sich die Justizminister der G7 in Berlin. Auch der ukrainische Minister Denys Maljuska war eingeladen, weil es um die Ermittlungen zu völkerstrafrechtlich relevanten Verbrechen in der Ukraine ging. Am Ende des ersten Arbeitstages nahm er sich Zeit für ein Interview.

taz: Herr Maljuska, mehr als neun Monate dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine jetzt schon. Was bedeutet das für Ihre Arbeit als Justizminister?

Jahrgang 1981, seit August 2019 Justizminister der Ukraine. Von 2010 bis 2019 war er als Berater für den Privatsektor der Weltbankgruppe tätig.

Denys Maljuska: Es sind viele neue Herausforderungen: mit Kriegs­gefangenen umgehen, die nötigen ­Rahmenbedingungen für Entschädigungen schaffen, die Arbeit des Anklägers des Internationalen Straf­gerichtshofs in der Ukraine ermöglichen. Außerdem müssen wir das Justiz­ministerium funktionsfähig halten. Uns untersteht die Verwaltung der Gefängnisse. Wir mussten viele Insassen evakuieren. Auch durch die russischen Angriffe auf die Energiein­fra­struktur können wir die Sicherheit in den Gefängnissen nicht immer gewährleisten.

Wie gehen Sie in der Ukraine juristisch mit Kriegsverbrechen um?

Wir sammeln Beweise. Mehr als 40.000 Strafverfahren im Bereich Kriegsverbrechen wurden bereits von den Strafvollzugsbehörden eingeleitet und mehrere Fälle vor ukrainische Gerichte gebracht. Es ist allerdings schwer bis fast unmöglich, Urteile zu vollstrecken, weil wir russische Kriegsgefangene stets gegen ukrainische Soldaten, unsere Helden, austauschen. Das Wichtigste ist: die Hauptverantwortlichen, nämlich den russischen Präsidenten Wladimir Putin und sein Team, vor ein Sondergericht zu bringen.

Wie sammeln Sie die Beweise?

Unsere Gegenoffensive hat die Russen überrascht und deswegen hinterließen sie so viele Beweise – anders als im Krieg im Donbass seit 2014, in dem wir keinen Zugang zu den Tatorten hatten. Jetzt bekommen wir auch viele anonyme Anrufe. Allerdings werden nicht alle Fälle bekannt oder den Vollzugsbehörden gemeldet. Viele Opfer haben die Ukraine inzwischen verlassen.

Wir arbeiten auch mit ukrainischen und ausländischen Nichtregierungsorganisationen sowie mit Behörden im Ausland zusammen – auch das ist anders als beim Krieg im Donbass. Der Internationale Gerichtshof sammelt ebenfalls Beweise für Kriegsverbrechen in der Ukraine. Diese ganzen Informationen werden für künftige Entschädigungsforderungen wichtig sein.

Werden auch die Fälle untersucht, in die ukrainische Soldaten verwickelt sein sollen?

Bislang wurde keine Anklage erhoben. In den letzten Wochen kursierten mehrere Videos, die auf Kriegsverbrechen seitens ukrainischer Soldaten hindeuten. Wir warten auf die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden. Wichtig ist: Wir erkennen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs an, auch wenn sich ukrainische Soldaten dort für Kriegsverbrechen verantworten sollten müssen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Im März wurde vom ukrainischen Parlament ein Gesetz gegen Kollaboration beschlossen. Um welche Leute geht es dabei? Welche Konsequenzen drohen Kollaborateuren?

Wenn eine Person den Aggressorstaat unterstützt, mit ihm kommuniziert oder dabei hilft, dessen Pläne umzusetzen, so definieren wir das als Kollaboration. Wenn jemand gezwungen wird, den Aggressor zu unterstützen oder auf besetztem Territorium lebt und arbeitet, ohne den Aggressor aktiv zuzuarbeiten, ist diese Person dafür nicht haftbar zu machen.

Einige Leute haben in den von Russland besetzten Gebieten Informationen über Ukrai­ne­r*in­nen weitergegeben, die das ukrainische Militär unterstützt haben. Diese wurden daraufhin von Besatzern gefoltert, manchmal sogar getötet. Das darf nicht ungestraft bleiben. Wir sind gerade dabei, das Strafrecht zu ändern – ein Gesetzesentwurf liegt dem Parlament vor. Die Definition von Kollaboration muss enger gefasst werden, damit wirklich klar ist, wer zur Verantwortung gezogen werden muss und wer nicht. Ein Gesetz, das die Beschlagnahme von Vermögenswerten von Kollaborateuren und Aggressoren erlaubt, haben wir bereits verabschiedet.

Wurde dieses Gesetz bereits angewendet?

Einige Fälle sind bei Gericht anhängig. Wir konzentrieren uns vor allem auf Oligarchen, auf reiche Leute, die das russische Militär oder die russische Regierung unterstützen – finanziell oder durch Informationen, um den Krieg fortzusetzen. Sie haben Vermögenswerte auf ukrainischem Territorium.

Stichwort Entschädigungen: Haben Sie eine Summe errechnet und wie realistisch sind Ihre Forderungen, eingefrorenes russisches Kapital an die Ukraine zu übergeben?

Wir bitten unsere Verbündeten, die Idee zu unterstützen, dass die über 300 Milliarden US-Dollar der russischen Zentralbank, die sich in westlichen Ländern befinden, in einen Entschädigungsfonds fließen. Das würde Verhandlungen und die Unterzeichnung und Ratifizierung eines ent­sprechenden Vertrags erfordern. Ein Entschädigungsfonds und eine Entschädigungskommission sollten ins Leben gerufen werden. Die internationale Gemeinschaft sollte sie verwalten und die Entschädigungszahlungen verteilen.

Die Ukraine hat im Juni den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommen. Hat der Krieg diese Entwicklung beschleunigt?

Auf jeden Fall. Und was die dafür notwendigen Reformen angeht, da haben wir erst die Hälfte dieses Weges zurückgelegt.

Woran liegt das?

An unseren westlichen Partnern. So ist die Umsetzung einiger Reformen von den Empfehlungen der Venedig-Kommission, die Verfassungen und demokratische Prozesse in Osteuropa evaluiert, abhängig. Auf diese Empfehlungen warten wir noch. Dasselbe gilt auch für die Besetzung wichtiger Posten im Justizbereich. Diese Auswahl haben wir ebenfalls unseren Partner übertragen.

Aber es geht auch um den Kampf gegen Korruption. Transparency International listet die Ukraine auf Platz 122 von 180.

Korruptionsbekämpfung war und ist eine Priorität unserer Partner, trotz des Krieges. Aber sie haben auch Verständnis dafür, dass die gesamte Wirtschaft und das ganze Land umstrukturiert und wiederaufgebaut werden müssen. Da gibt es noch einiges zu tun und wir benötigen externe Hilfe. Unsere Anti-Korruptions-Gremien sind aber schon sehr aktiv. Innerhalb einiger Monate haben sie Anklage gegen hochrangige Beamte in der Ukraine erhoben.

Das EU-Parlament hat Russland in einer Resolution zu einem staatlichen Unterstützer von Terrorismus erklärt.

Es wäre mir lieber, wenn das US-Außenministerium das gemacht hätte. Das hätte – anders als bei der EU – erhebliche juristische Konsequenzen, die ganze Geschäftszweige blockieren würden.

Der Bundestag hat am Mittwoch eine Resolution zum Holodomor der 1930er Jahre verabschiedet. Ist das mehr als Symbolpolitik?

Es geht um Gerechtigkeit, aber das schafft auch einen Rahmen und ein historisches Verständnis dafür, was gerade im Angriffskrieg passiert: Das ist ein Völkermord. Es ist eine Aggression, aber auch ein Versuch, die ukrainische Nation zu eliminieren, Menschen zu vernichten – sei es durch Hunger wie damals oder durch die Zerstörung von Infrastruktur für Energieversorgung wie jetzt.

Sie sind seit August 2019 Justizminister. Wie geht es Ihnen damit?

Es ist nicht leicht. In den ersten Monaten haben wir das Land komplett umgekrempelt und einiges auf den Weg gebracht. Dann brach die Coronapandemie aus und ich dachte, als Justizminister den schlimmsten Job zu haben – von wegen. Und anschließend begann Russlands Krieg gegen die Ukraine. Irgendwie war ich nie ein gewöhnlicher Justizminister, der über umfassende Reformen nachdenken konnte. Aber ich bin froh über das, was wir geschafft haben.

Was ist Ihre Botschaft an Deutschland?

Die ist sehr schlicht: Wir sitzen alle im selben Boot. Ja, wir leiden, aber auch die Deutschen leiden. Es ist offensichtlich, dass Russland nicht die Ukraine als eigentlichen Feind sieht, sondern den Westen. Die Ukraine wird nur als erster Schritt betrachtet. Viele Deutsche erinnern sich noch, in was für einer Welt wir lebten, als ihr Land geteilt war. Wenn es keine effiziente Antwort auf Russland gibt, wird sich diese Geschichte wiederholen.

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