Roman von Nobelpreisträger Gurnah: Inmitten vieler Geschichten
Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erscheint nun auf Deutsch. Der Roman „Das verlorene Paradies“ geht uns an – über den postkolonialen Kontext hinaus.
Zu Beginn des letzten Viertels dieses Romans versucht Yusuf, dessen Jugendzeit wir lesend begleiten, sich einen Reim auf seine Erlebnisse zu machen. „Das verlorene Paradies“ spielt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an der ostafrikanischen Küste bei Sansibar. Yusuf hatte an einer Handelskarawane ins Landesinnere teilgenommen. Ein Fehlschlag, alle monatelange Mühsal und alle Opfer vergebens, viele der Beteiligten kommen um.
Yusuf erzählt nun, „wie oft er sich auf der Reise wie ein Weichtier vorgekommen war, das seine Schale abgestreift hatte und nun ungeschützt ausgeliefert dalag, ein abscheuliches, bizarres Tier, das zwischen Schottersteinen und Dornen ziellos seine Schleimspur zog“. Er fragt sich, „was es wohl war, wonach die Leute sich so sehr sehnten, dass sie, nur um Handel treiben zu können, ein derartiges Grauen niederkämpfen konnten“.
Er berichtet aber auch, Dinge gesehen zu haben, auf die er nicht vorbereitet war: „Das Licht auf dem Berg ist grün […] Und die Luft ist wie reingewaschen. Morgens, wenn die Sonne die Schneekuppe streift, überkommt einen ein Gefühl von Ewigkeit“.
Abdulrazak Gurnah: „Das verlorene Paradies“. Aus dem Englischen von Inge Leipold. Penguin, München 2021. 336 Seiten, 25 Euro
Was an dieser Szene auffällt, ist – neben dem schroffen Nebeneinander von Grauen und Schönheit – ein poetischer Überschuss, der von Abdulrazak Gurnah an dieser Stelle ganz bewusst gesetzt ist. Die Erlebnisse selbst, die alltäglichen wie die schlimmen, schildert dieser Autor in diesem Roman oft ganz lakonisch. Und daneben und teilweise quer dazu stehen dann die Geschichten, die die Figuren erzählen, sich selbst oder anderen.
Eine der interessanten Leseerfahrungen dieses Romans ergibt sich aus diesem Punkt: Zu ihren tatsächlichen Erlebnissen passen diese Erzählungen der Figuren nämlich oft nicht recht. Dazwischen gibt es einen Spalt, der sich auch zur Kluft auswachsen kann. Und keineswegs immer steht, wie bei Yusuf nach seiner Rückkehr von der Karawanenreise, der redliche, teilweise aber auch noch hilflose Versuch dahinter, überwältigende Erfahrungen in Worte zu fassen. Vielmehr geht es auch um handfeste Interessen, darum, durch Geschichten die Realität zu verfälschen, und auch darum, durch Geschichten sich tröstend vom eigenen Schicksal abzulenken.
Unsere Lügen und Illusionen
In seiner Nobel-Lecture, die er ein paar Tage, bevor ihm nun der Nobelpreis überreicht wurde, gehalten hat, hat Abdulrazak Gurnah es als eins seiner schriftstellerischen Anliegen beschrieben, auf die „Hässlichkeit dessen hinzuweisen, was wir einander zufügen können, und den Lügen und Wahnvorstellungen zu widerstehen, mit denen wir uns selbst getröstet haben“. In „Das verlorene Paradies“ findet sich beides, das, was Menschen einander zufügen können, sowie die Lügen und Illusionen.
Das macht diesen 1948 auf Sansibar geborenen und Mitte der sechziger Jahre nach dortigen Unruhen nach Großbritannien emigrierten Autor über den postkolonialen Zusammenhang, in dem er zweifellos erst einmal steht, hinaus interessant. In „Das verlorene Paradies“ erzählen sich die Figuren Geschichten nicht nur, um zu leben (Joan Didion) oder um zu verstehen, sondern auch um sich selbst ins rechte Licht zu setzen und um andere Figuren abzukanzeln.
Ein das ganze Buch über durchgehaltener tragischer Grundton ist dabei dadurch gesetzt, dass Yusufs tatsächliche Geschichte inmitten all dieser Geschichten gar nicht vorkommt. Im Alter von zwölf Jahren wird er von seinen verschuldeten Eltern dem Kaufmann Aziz, den Yusuf mal Onkel Aziz, mal Seyyid, Herr, nennt, als Geisel übergeben. Als er nach Jahren mit dem Zug wieder durch seine Geburtsstadt fährt, versteckt er sich hinter den Waggonfenstern, um von seinen Eltern ja nicht gesehen zu werden; ihm ist unklar, was von ihm erwartet würde und wie er in dieser Situation reagieren sollte.
Und den ganzen Roman hindurch weiß er nicht, ob er nun ein Angestellter, ein Sklave, ein Diener oder vielleicht doch auch ein möglicher Nachfolger des Kaufmanns ist. Der Roman ist durchzogen von solchen Abhängigkeiten und unklaren Nahbeziehungen.
Verschärfende Lage
Auch auf größerer sozialer Ebene hat die Kluft zwischen der Realität und den Geschichten konkrete Auswirkungen. So schlägt die Karawane, die im Zentrum des Buches steht, auch wegen der Kraft von Geschichten fehl, die sich über die Realität legen. Chatu, der Sultan eines Stammes, zu dem die Karawane vorstößt, weigert sich nicht nur zu handeln, sondern nimmt auch mit Gewalt alle Waren an sich. Er sagt: „Ihr seid hierhergekommen, um uns Übles zu tun. Wir haben unter anderen eurer Art gelitten, die vor euch hier waren […] Sie sind über unsere Nachbarn hergefallen, haben sie gefangen genommen und verschleppt.“
Dem Kaufmann Aziz gelingt es nicht, zu beglaubigen, dass er mit solchen Geschichten vom historischen arabischen Sklavenhandel in der Region nichts zu tun hat. Wobei die Illusion auf seiner Seite liegt. Seine Art, Handel zu treiben, wird in der sich durch die Ankunft europäischer Mächte zusätzlich verschärfenden Lage zunehmend anachronistisch.
Spätestens an dieser Stelle ist es interessant, einmal nachzuzeichnen, wer in diesem Roman wen alles als „Wilde“ bezeichnet. Vom Kaufmann Aziz heißt es in der Figurenperspektive ausdrücklich, er treibe Handel „mit den Wilden“. Dass die Angehörigen dieser Stämme im Landesinneren nun wiederum ihn als „Wilden“ und eben nicht als Händler verstehen, verdeutlicht den Fehlschlag der Karawane.
Dass wiederum die Weißen, die in dem Buch an wenigen, aber markanten Stellen vorkommen, alle Nichtweißen sowieso als „Wilde“ begreifen, muss gar nicht erst formuliert werden; die Europäer – ein Kunstgriff für sich – reden in diesem Buch gar nicht, sie herrschen schweigend. Dafür wird an anderer Stelle extra betont, dass die ostafrikanischen Kaufleute ihrerseits eingeschüchtert sind von der „Wildheit und Rücksichtslosigkeit“ der Europäer. „Wilde“ sind in diesem Roman (Dank an Marcel Inhoff für den Hinweis) tatsächlich immer die anderen. Und das wird vor allem durch Geschichten transportiert.
Multiethnisches Leben
„Das verlorene Paradies“ ist Abdulrazak Gurnahs vierter Roman. Auf Englisch erschien er 1994, 1996 wurde er von der (inzwischen verstorbenen) Übersetzerin Inge Leipold ins Deutsche übertragen – und nicht übermäßig stark wahrgenommen, wie alle anderen Romane dieses Autors auch nicht. Doch nachdem der überraschende Nobelpreis dieses Jahres auf Gurnah aufmerksam machte, wird das nun nachgeholt.
Für die deutschen Rechte soll es großes Interesse gegeben haben, der Penguin Verlag hat sie sich schließlich gesichert. Alle bisher zehn Romane Gurnahs werden auf deutsch herauskommen, den Beginn dieser Edition macht jetzt die neu durchgesehene und mit einem Glossar versehene Neuausgabe von Inge Leipolds Übersetzung.
Der Roman führt hinein in das multikulturelle und auch multiethnische Leben in diesem Bereich der ostafrikanischen Küste, bevor der auch hier durchgesetzte europäische Kolonialismus – in den Jahren nach der sogenannten Westafrika-Konferenz in Berlin 1884/85 wurde ganz Afrika europäischer Herrschaft unterworfen – alle gesellschaftlichen Gegebenheiten endgültig nach einem Weiß-Schwarz-Dualismus formatierte.
In dem Roman kursieren arabisch geprägte Erzählungen um Dschinns und verzauberte Prinzessinnen, der Islam trifft auf Naturkulte, an der Küste gibt es unter den Händlern indische und chinesische Einflüsse, während die Menschen aus dem Landesinneren nur mit einem Tuch bedeckt durch die Straßen gehen.
Schönheit des Schreibens
Inmitten dieses unübersichtlichen Geflechts muss sich Yusuf zurechtfinden, was für ihn – der Roman ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte – etwa auf sexuellem Gebiet alles andere als leicht ist. Auf der einen Seite wird er immer wieder mit handfesten Übergriffigkeiten von Männern und Frauen konfrontiert, die ihn unumwunden auffordern, sie einmal zu besuchen, während ihre Männer Mittagsschlaf halten. Auf der anderen Seite gibt es verschleierte Frauen, und alles wird traditionell geregelt.
In seiner Nobel-Lecture hat Abdulrazak Gurnah auch gesagt, dass für ihn die Schönheit des Schreibens auch daraus resultiere, zu zeigen, wie „es anders sein könnte“, und damit zu tun habe, hinter die Vereinfachungen und Stereotypen zu kommen, die gern kolportiert werden. Auf der Handlungsebene dieses Romans ist dieses fast utopische Potential nicht zu finden. Auch in den Liebesbeziehungen nicht. Sie sind genauso von Hierarchien und Vorurteilen durchdrungen wie die Familienbeziehungen und die von den Figuren erzählten Geschichten.
Doch auf der Ebene der Beschreibungen blitzen in dem Roman immer wieder eindringliche Momente auf, die den oft engen Erzählungen der Figurenperspektive etwas zur Seite und womöglich ihnen auch entgegenstellen. Eine Suche nach Genauigkeit und Dringlichkeit. Eine Arbeit daran, das Potential des Schreibens ganz auszunutzen, die Fülle der Wahrnehmungen zu erfassen, sich unerschrocken der ganzen Bandbreite menschlicher Empfindungen zuzuwenden.
Unerbittlichkeit der Deutschen
So erfährt man in diesem historischen Roman viel über den Kolonialismus und die spezifische Situation, wie er sich in dem von ihm sorgfältig beschriebenen Teil der Welt durchsetzte. Doch in vielen Beschreibungen von Orten, Menschen, Szenen und auch in der Genauigkeit, in der die verfälschenden Geschichten der Figuren dargestellt werden, geht der Roman auch immer wieder darüber hinaus. Das Schreiben bekommt ein Eigenrecht.
In seiner Indirektheit sehr kunstvoll wiederum beschreibt Gurnah, wie die weißen Kolonialherren in dieser Gegend vom Gerücht zur alles unterwerfenden Realität werden. Europäer sieht Yusuf zum ersten Mal an einem Bahnsteig: „Plötzlich entblößte der Mann die Zähne zu einem unwillkürlichen Knurren und krümmte seine Finger auf seltsame Weise.“ Ein weißer Mann, der eine Raubtiergeste nachmacht, eine beiläufige Szene, die aber doch hängen bleibt.
Die deutsche protestantische Arbeitsmoral, die Unerbittlichkeit der Deutschen bei Bestrafungen, darüber kursieren unter den Figuren erst Geschichten, bis am Schluss des Buches ein deutscher Offizier mit einem Trupp Askaris, also rekrutierten schwarzen Soldaten der deutschen sogenannten Schutztruppe, auftaucht. Diesen deutschen Offizier beschreibt Gurnah so: „Seine Gesichtshaut war straff und gespannt, wie nach einer Verbrennung oder Krankheit. Sein Lächeln war eine starre Grimasse der Entstellung. Seine Zähne lagen frei, als hätte das angespannte Fleisch seines Gesichts zu faulen begonnen“. Hat man nicht gleich ein Kriegsgemälde etwa von Otto Dix im Kopf?
Dulden und Ohnmacht
Gegen Ende geht es in dem Roman darum, ob die Figuren nicht aus all diesen Gegebenheiten ausbrechen können. Es gibt einen alten, längst freigelassenen Sklaven, der dennoch nicht in die Freiheit geht und bei dem Garten bleibt, den er seit Jahrzehnten für seine Herren pflegt. Yusuf empfindet seine Geschichten als papierne „Weisheit des Duldens und der Ohnmacht“. Doch auch Yusuf versucht nicht den Schritt in die Freiheit. Wohin sollte er auch gehen? Er läuft den Askaris hinterher, um sich von ihnen rekrutieren zu lassen. Ein Weichtier, das sich eine Schale sucht. Ihm bleibt nichts anderes übrig.
In einer anderen Zeit und einer anderen weltpolitischen Situation hätte aus Yusuf, das zeigt der poetische Überschuss seines Berichts von der Karawane, ein Schriftsteller werden können. Doch in der Situation, in der er sich befindet, eingeklemmt zwischen starren Hierarchien, verfälschenden Geschichten und dem Kolonialismus, kann er sich nur seine Beherrscher aussuchen.
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