Übersetzungen postkolonialer Romane: Die andere Seite vom Stacheldraht

Postkoloniale Literatur kann die Sicht auf die Welt nachhaltig verändern. Ein Überblick über aktuelle Romane – von Dangarembga bis Varatharajah.

Portrait des Schriftstellers Abdulrazak Gurnah.

Erhielt 2021 den Literaturnobelpreis: Schriftsteller Abdulrazak Gurnah Foto: Henry Nicholls/reuters

Hamza schreckt schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Ein schlimmes Gefühl steckt in seinen Knochen. „Ein Gefühl von Bedrohung, eine Todesangst. Als käme eine große Gefahr näher, vor der es kein Entrinnen gibt. Da ist ein furchtbarer Lärm, und Schreie und Blut.“

Hamza ist eine der Figuren, mit denen Abdulrazak Gurnah in seinem Roman „Nachleben“ zeigt, wie tief der koloniale Terror in den Leidtragenden sitzt. Er wurde als Jugendlicher von den deutschen Kolonialtruppen zwangsrekrutiert, um als Söldner dem Kaiser zu dienen. Den vermissten Bruder seiner späteren Frau wird das Schicksal nach Deutschland führen.

In jenem Ilias greift Gurnah das Schicksal von Bayume Mohamed Husen auf, der nach dem Krieg in Deutschland mit Zarah Leander vor der Kamera stand und 1944 im KZ Sachsenhausen ums Leben kam. In dem von Eva Bonné übersetzten Roman zieht der auf Sansibar geborene Schriftsteller eine Linie vom Kolonialismus zu den Verbrechen des „Dritten Reiches“.

So macht Gurnah der kollektiven Verdrängung des deutschen Kolonialismus ein Ende. „Mir geht es nicht darum, die historischen Ereignisse gleichzusetzen“, erklärte er gegenüber der Zeit, „aber natürlich waren die Deutschen mit ihrem kulturellen Überlegenheitsgefühl dezidiert rassistisch, und sie übten die Unterwerfung anderer Völker ein, ich sehe durchaus Verbindungslinien.“

Abdulrazak Gurnah: „Nachleben“. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin, München 2022, 384 Seiten, 26 Euro

David Diop: „Nachts ist unser Blut schwarz“. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Aufbau, Berlin 2022. 160 Seiten, 18 Euro

Maaza Mengiste: „Der Schattenkönig“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky. dtv, München 2021, 576 S., 25 Euro

Laila Lalami: „Der verbotene Bericht“. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber, Zürich 2022, 496 Seiten, 27 Euro

Sinthujan Varatharajah: „an alle orte, die hinter uns liegen“. Hanserblau, Berlin 2022, 352 Seiten, 24 Euro

Tsitsi Dangarembga: „Verleugnen“. Aus dem Englischen von Anette Grube. Orlanda, Berlin 2022, 306 Seiten, 24 Euro

Vera Elisabeth Gerling, Birgit Neumann, Eva Ulrike Pirker (Hg.): „Timescapes – aller-retour“. C. W. Leske, Düsseldorf 2022, 280 S., 18 Euro

Gurnahs Literatur eröffnet die Möglichkeit, die deutsche Kolonialgeschichte kritisch zu beleuchten. Nicht zuletzt seine Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 2021 hat Geschichten aus ehemals kolonialisierten Regionen unter dem Schlagwort der postkolonialen Literatur in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei kommt es nicht allein darauf an, dass diese Texte von Regionen erzählen, die einst von Imperialmächten unterworfen waren, sondern dass in ihnen eine selbstbewusst-machtkritische Perspektive mitschwingt.

Oftmals tauchen diese Texte in die Geschichte ein, um historische Fakten aus der Perspektive der Unterworfenen darzustellen; neben Gurnahs Werk etwa David Diops hypnotische Erzählung „Nachts ist unser Blut schwarz“ oder Maaza Mengistes umwerfender Roman „Der Schattenkönig“. Diop lässt einen sogenannten Senegalschützen von seinen Erlebnissen im französischen Heer im Ersten Weltkrieg berichten, Mengiste erzählt vom Widerstand äthiopischer Frauen gegen Mussolinis faschistische Truppen im Äthiopien der 1930er Jahre. Romane wie diese richten die Aufmerksamkeit auf die kolonialen Verbrechen, sie erzählen von Leid, Befremden und (meist blutigem) Aufbegehren.

Dem kommt auch der Roman „Der verbotene Bericht“ der marokkanisch-amerikanischen Schriftstellerin Laila Lalami nach. Die von Michaela Grabinger übersetzte Erzählung nimmt die Landnahme Floridas durch spanische Kolonialisten in den Blick. Der Ich-Erzähler ist ein marokkanischer Sklave, der seinen Besitzer nach Florida begleitet und dort Zeuge von vielen Grausamkeiten wird. Es ist bezeichnend, dass der „erste Afrikaner“ den amerikanischen Kontinent als Sklave betritt – fast hundert Jahre, bevor erste Schiffe mit Sklaven den Kontinent erreichen.

Imperiale Sprachpolitik

Lalamis mit dem American Book Award ausgezeichneter und für den Pulitzerpreis nominierter Roman weist Parallelen zu „Das verlorene Paradies“, einem frühen Werk von Abdulrazak Gurnah, auf. In beiden Titeln erzählen zwei Leibeigene empathisch davon, wie sie Zeuge der gewaltsamen Unterwerfung anderer wurden. „Ich wusste, wie es war, wenn man ausgepeitscht wurde, wenn man sich wehrte, seine Unschuld beteuerte, nur um noch heftiger gepeitscht zu werden und festzustellen, dass Hiebe erst mit der vollständigen und bedingungslosen Unterwerfung endeten“, gibt etwa Lalamis Ich-Erzähler Estebanico alias Mustafa zu Protokoll.

An anderer Stelle beobachtet er, dass die Spanier, nachdem sie sich zu Herren über Florida ernannt hatten, begannen, „alles neu zu benennen, als wären sie der allwissende Gott im Garten Eden“. Diese koloniale Sprachpolitik, nach der die Welt mit imperialen Sprachmustern erklärt und zugänglich gemacht wird, besteht bis heute fort, sagt Sinthujan Varatharajah.

Der*­die in Berlin lebende tamilische Au­to­r*in erkundet in dem Essay „an alle orte, die hinter uns liegen“ die Folgen kolonialer Gewalt. Die spiegele sich auch im Literaturbetrieb. Die meisten Bücher seien aus „imperialen Sprachen“ übersetzt, Übersetzungsförderung für Texte aus lokalen Sprachen gebe es hingegen kaum. „Weil die Annahme besteht, dass die Geschichten, die in diesen marginalisierten Sprachen erzählt werden, nicht relevant sind“, meint Varatharajah.

Wolof und Shona

Hätte der aktuelle Booker-Prize-Roman „The Seven Moons of Maali Almeida“ von Shehan Karunatilaka auch so viel Aufmerksamkeit bekommen, wenn er in Singhalesisch oder Tamil verfasst worden wäre? Würde Mohamed Mbougar Sarrs Prix-Goncourt-Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ auch übersetzt, wenn ihn der Senegalese in Wolof geschrieben hätte? Wäre Abdulrazak Gurnah überhaupt als Autor anerkannt, schriebe er in seiner Muttersprache Swahili? Oder Tsitsi Dangarembga, würde sie zu Shona greifen?

Zugegeben, alles hypothetische Fragen, aber keinesfalls bedeutungslos. Diese Au­to­r:in­nen bedienen sich imperialer Sprachen, um gegen die imperiale Erzählung und die Spätfolgen des Kolonialismus anzuschreiben.

Wie geht man da am besten vor? Bei der von Ilija Trojanow und Anette Grube übersetzten Tambudzai-Trilogie von Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga liegt die Lösung im Konzept. Ihre Hauptfigur Tambudzai Sigauke wächst Anfang der 1970er Jahre unter kolonialen Bedingungen in einem Dorf auf, erlebt als Heranwachsende zu Beginn der Achtziger das nationale Erwachen und kämpft als erwachsene Frau in den 1990ern mit Hunger, Diskriminierung und Sexismus.

Entlang der Bewegung der Romane „Aufbrechen“, „Verleugnen“ und „Überleben“ sind die Schauplätze Dorf, Schule und Stadt, die Themen Armut, Rassismus und Frauen sowie die Kampffelder Klasse, Hautfarbe und Gender angeordnet. So führt die zunehmend existenzielle Erzählung von den psychischen Deformationen des Kolonialismus bis zur physischen Bedrohung in der postkolonialen Gegenwart.

Konzept des „Writing back“

Patricia Klobusizcky, Übersetzerin von Maaza Mengiste und weiterer postkolonialer Werke, erläuterte kürzlich im Onlinemagazin des Deutschen Übersetzerfonds einen anderen Weg. Sie schrieb, „die Erfahrung, dass Sprache und Kultur des jeweiligen Imperiums als das Höherwertige, Erstrebenswerte gelten, während die Sprachen und Kulturen der Kolonisierten systematisch herabgewürdigt, wenn nicht gar fast ausgelöscht werden“, in den dekolonisierten Sprachräumen sehr präsent sei. Au­to­r:in­nen griffen oft zum Konzept des „Writing back“, um „die unterdrückte, verfälschte, fast ausgelöschte Geschichte schreibend zurückzuerobern“.

So würde in postkolonialen Texten oft die Verwendung der imperialen Sprachen reflektiert, indem „europäische Erzählweisen adaptiert, verfremdet, weiterentwickelt“ und Wörter, Wendungen und Rhythmen aus den jeweiligen afrikanischen Sprachen eingestreut oder syntaktisch aufgenommen werden.

Wollen Li­te­ra­tur­über­set­ze­r:in­nen das spielerische Hin und Her zwischen Zeiten, Räumen und Sprachen nicht in ein verr(i)egeltes Deutsch übertragen, müssen sie kreative Lösungen finden. Die von Vera Elisabeth Gerling, Birgit Neumann und Eva Ulrike Pirker herausgegebene Anthologie „Timescapes – aller-retour“ mit Erzählungen aus afrikanischen Kontexten veranschaulicht das eindrucksvoll. Im Nebeneinander von Original und Übersetzung lassen sich in dieser absolut spannenden und perspektivverändernden Sammlung die vielfältigen Strategien nachvollziehen, um bei der Übersetzung in eine imperiale Sprache die inhärenten Gesetze des Textes nicht zu verraten.

In den zwölf Kurzgeschichten reflektieren sechs Schrift­stel­le­r:in­nen mit Wurzeln in Kamerun, dem Kongo, Nigeria, dem Senegal, Südafrika und Uganda nicht nur die koloniale Vergangenheit, sondern auch den langen Schatten des Kolonialismus in der postkolonialen Gegenwart und Zukunft. Die versammelten Geschichten handeln von Geografie und Zeit, Vielfalt und Offenheit, Identität und Gender und führen so die de­struktive Langzeitwirkung des Kolonialismus vor Augen. „Der Horizont meiner Träume ist eine Betonwand, ein Stacheldrahtzaun, ein amtliches Blatt Papier, auf dem ein Stempel prangt: Abgelehnt.“

Verfremdete Sprachmuster

Kolonialrassistische Zuschreibungen, Stereotype und Perspektiven haben jahrhundertelang die Welt regiert und stecken tief in den Köpfen. Deshalb wirken kolonial geprägte Erzählung(haltung)en auf die Nachfahren der Ko­lo­nia­lis­t:in­nen wie Prousts Madeleines. Sie wecken Erinnerungen an Bekanntes und sorgen so beständig dafür, dass die Welt nach kolonialen Gesetzen gelesen und sortiert wird.

Postkoloniale Literatur kann mit neuen historischen und marginalisierten Perspektiven sowie verfremdeten Sprachmustern diese Lesart brechen. Dank ihr können wir verstehen, dass wir in vieler Hinsicht kulturelle An­alpha­be­t:in­nen sind. Weil der Horizont unserer Vorstellungskraft auf der anderen Seite der Betonwand und des Stacheldrahtzauns endet.

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