Rollenverteilung in der Elternzeit: Jenas besondere Väter
Was ist los in der zweitgrößten Stadt Thüringens? Sind die Männer in Jena besonders fair, familienorientiert, flexibel? Und wenn ja: warum?
Es ist frisch an diesem Herbstnachmittag, es nieselt. Die Horterzieherinnen schicken die Grundschulkinder trotzdem raus an die frische Luft. Linus, 7, hockt mit zwei Jungs im Buddelkasten. Körner, 45, sportlich, randlose Brille, Karohemd, entdeckt ihn sofort. Vater und Sohn verschwinden in der Schule, Schultasche und Sportzeug holen.
An anderen Tagen holte Jenny L., Körners Frau und Linus' Mutter, den Jungen ab. Beide Elternteile wechseln sich ab. Dabei haben sie keinen ausgeklügelten Plan, wer wann dran ist: Das verhandeln sie kurzfristig. Aber beide achten darauf, dass die „Dienste“ gerecht verteilt sind. Sie wollen sich beide gleichermaßen um ihr gemeinsames Kind kümmern.
FamilienexpertInnen nennen das „moderne Elternschaft“ und Marco Körner einen „aktiven Vater“: Er bleibt auch mal zu Hause, wenn Linus krank ist, er bringt ihn zum Zahnarzt, zum Einschlafen liest er ihm vor. Als Linus ein Baby war, war Körner mit ihm drei Monate in Elternzeit. In den sogenannten Vätermonaten hat er den Kinderwagen durch den dörflich anmutenden Stadtteil, wo die Familie wohnt, geschoben. Er hat eingekauft, Wäsche gewaschen, gekocht. „Das war gar keine Frage, das wollten meine Frau und ich so“, sagt Marco Körner.
Spielzeug hat kein Geschlecht
Fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt
In Jena scheinen viele Paare so zu denken. Die Stadt zwischen Muschelkalkhängen und der Saale führt das Elterngeldranking an: Knapp 58 Prozent der Väter hier bezogen 2014 die Lohnersatzleistung in der Zeit, in der sie ihre Kinder zu Hause betreuten, hat das Statistische Bundesamt herausgefunden.
Das ist mehr als anderswo in der Republik. Den Bundesdurchschnitt beziffert die Behörde mit 34 Prozent. In seinem Freundes- und Kollegenkreis haben alle Väter die Elternzeit genutzt, sagt Körner: „Ich kenne eigentlich keinen, der das nicht gemacht hat.“
Was ist los in der zweitgrößten Stadt Thüringens? Sind die Männer hier besonders familienorientiert, flexibel, geschlechtergerecht? Oder hat das mit Jena selbst zu tun? Was macht die Politik dort anders als in anderen Orten der Republik?
„Jena ist eine lebendige Stadt“, sagt Bernhard Kühn, einer der beiden Koordinatoren des Vereins „Väteraufbruch für Kinder“: „Jung, innovativ, wachsend.“ Jena ist eine der wenigen Städte in der Bundesrepublik, in denen die Einwohnerzahl langsam, aber kontinuierlich steigt. Von den derzeit 108.000 EinwohnerInnen bilden die 20- bis 30-Jährigen die größte Gruppe. In der Regel sind das Studierende. „Einige, die zum Studium hergekommen sind, bleiben hier“, sagt Kühn: „Denen muss man über den Job hinaus vor allem Familienfreundlichkeit bieten.“ Flexible Arbeitszeiten, Kita- und Hortplätze, Ganztagsschulen.
Viele hier arbeiten an den Hochschulen
Die meisten Menschen in Jena haben einen festen Job: in der Uni, in der Fachhochschule, im Max-Planck-Institut, im Fraunhofer-Institut, im Leibniz-Institut oder in der Helmholtz-Gemeinschaft. Die Arbeitslosenquote ist mit 6,4 Prozent geringer als anderswo in Thüringen und niedriger als im ostdeutschen Durchschnitt. Die Firmen und Wissenschaftseinrichtungen sind auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden eingestellt: Gleitzeit, Home Office, Teilzeit, auch für ChefInnen, Vätermonate – all das ist eher Standard als Luxus.
Davon profitiert Marco Körner, Linus’ Vater. Er arbeitet in einer Software- und Abrechnungsfirma, in der immer mal ein Vater fehlt, weil er sich um seine Kinder kümmert. „In meinem Unternehmen ist Familienfreundlichkeit eine Selbstverständlichkeit“, sagt Körner: „In anderen Firmen ist das noch nicht so umgesetzt.“ Aber am Ende zähle doch das Arbeitsergebnis, oder?
Heute hat Körner früher Schluss gemacht, Linus muss rechtzeitig in der Judohalle am anderen Ende der Stadt sein. An manchen Brückentagen, einem Arbeitstag zwischen zwei freien Tagen, nimmt Körner seinen Sohn mit zur Arbeit. Dort wird Linus zusammen mit anderen Kindern von externen Erzieherinnen betreut. Die kommen extra für diesen Tag in die Firma, die die Erzieherinnen bezahlt.
„Demokratie statt Staat“ nennt Frank Schenker das. Er ist fünffacher Vater und seit zehn Jahren Bürgermeister von Jena. Früher war der Lehrer und Theologe Dezernent für Bildung und Wissenschaft. Schenker, der sich selbst als „grüner CDU-Mann“ bezeichnet, sagt: „In Jena wird dem Wunsch der Eltern Rechnung getragen, ihre Lebensentwürfe tatsächlich umsetzen zu können.“
Was das konkret heißt, zählt er atemlos auf: Schulen, die nach den Vorstellungen der Eltern entstanden sind, eine Abiturquote von 65 Prozent, eine Inklusionsquote von 85 Prozent. In den vergangenen acht Jahren hat Jena zehn neue Kitas gebaut. Es gibt Betriebskitas, das Netzwerk „Bündnis für Familie“, dem rund 70 Unternehmen, Wissenschaftseinrichtungen und Verwaltungen angehören, und den erklärten Willen, „dass sich hier jeder wohlfühlen soll“. Familienpolitik, sagt Schenker, sei in Jena wie ein „hoher Grundwasserspiegel“: Der Druck kommt von unten, die Stadt reagiert.
Frank Schenker, Bürgermeister
Ist Jena ein einzigartiges Familienparadies? Schon, sagt Körner. Obwohl er von der Politik nicht erwarte, dass sie Familien Verantwortung abnimmt. Und es gibt ja auch Probleme: Die Kitakosten sind höher als anderswo. Körner und seine Frau zahlten für Linus’ Kitaplatz damals monatlich rund 200 Euro – Höchstsatz, weil sie ein gutes Einkommen hatten. Viele Studierende finden keine Wohnung, weil die Stadt zu langsam baut. Es gibt keinen Zoo und kein Puppentheater. Aber das sei Jammern auf hohem Niveau, sagt Körner.
Die Kita-Kosten sind höher als anderswo
Er kann vergleichen. Seine Tochter aus einer früheren Beziehung lebt in einer Stadt in Rheinland-Pfalz, er besucht sie regelmäßig. Als sie geboren wurde, gab es keine Vätermonate und kein Elterngeld. Die Elternzeit hat die Mutter allein genommen. Für die Kita in der rheinland-pfälzischen Stadt müssen die Eltern teilweise nichts bezahlen, aber es gibt viel zu wenige Plätze. Eltern – meist sind es die Mütter – sind gezwungen, im Job länger als nötig auszusetzen. Manche geben ihn ganz auf. Der Schwimmbadbesuch im Westen kostet 1,50 Euro, in Jena ist er etwa siebenmal so teuer. „Jena ist keine reiche Stadt“, sagt Körner.
Das Judotraining ist vorbei, Linus ist verschwitzt. Marco Körner schiebt seinen Sohn ins Auto. Zu Hause wartet bestimmt schon die Mama. Sie arbeitet an der Uni in Erfurt und pendelt häufig. Manchmal bleibt sie, so wie heute, in Jena und arbeitet in der Bibliothek. Müsste sie jeden Morgen eine Stunde nach Erfurt und am Abend wieder eine Stunde zurückfahren, würde das ihr Familienmodell sprengen. Jenny L. sagt: „Familienfreundlich ist für mich, wenn ich möglichst viel gemeinsame Zeit mit meinem Mann und meinem Sohn verbringen kann.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern