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taz FUTURZWEI

Richard David Precht zur Weltordnung „Ich habe mich noch nie vor Russen gefürchtet“

Wer bin ich, wer ist Deutschland, wer ist Europa? Der Philosoph Richard David Precht im taz FUTURZWEI-Titelgespräch mit Peter Unfried und Harald Welzer.

„Es ist viel interessanter über die Welt nachzudenken als über das eigene ‚Ich‘.“ Foto: Sofia Brandes

taz FUTURZWEI | In Ihrem bisher berühmtesten Buch Wer bin ich und wenn ja, wie viele? weisen Sie nach, dass es gar kein Ich gibt, aber Ideen davon. Welche „Ich“-Idee haben Sie im Moment von sich selbst, Herr Precht?

Richard David Precht: Um Gottes Willen. Ich werde nie so tief sinken, eine „Ich“-Idee von mir selber zu entwickeln. Ich finde, es ist schon eine sehr umfangreiche Aufgabe, sich immer wieder über den Zustand der Gesellschaft Gedanken zu machen. Was ich tunlichst vermeide, ist mir allzu viele Gedanken über mich selbst zu machen. Ich finde, dass unsere Gesellschaft eher daran krankt, dass zu viele Leute sich zu viele Gedanken um sich selbst machen.

Menschen machen sich viele Gedanken um sich selbst, aber die sind nicht wirklich hilfreich?

Wenn man zu lange über sich selbst nachdenkt, versinkt man irgendwann. Das „Ich“ ist unendlich und unergründlich. Es ist viel interessanter über die Welt nachzudenken als über das eigene „Ich“.

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taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?

Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?

Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.

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Man kann aber schwer die Welt-Analyse unabhängig von der eigenen Welt-Beziehung machen?

Wenn man sechzig oder älter ist, dann blickt man nicht unbedingt auf ein „Ich“ zurück, aber man blickt natürlich auf so etwas wie Identität. Die Frage ist dann: In welcher Form halte ich mich als ein und derselbe zeitlich durch? Diese Frage ist gerade im Augenblick hochinteressant. Es gibt Leute, die bereit sind, ihre Werte und ihre Weltvorstellungen in kürzester Zeit über Bord zu werfen. Und wenn man selbst zu den Menschen gehört, die dazu nicht bereit sind, dann weckt das den Sinn für das Nachdenken.

„Ich bin kein Transatlantiker, ich hatte immer ein sehr kritisches Verhältnis zu den USA, schon aus biografischen Gründen.“

Wenn man abweichend denkt, ist ja immer die Frage, ticken jetzt alle falsch oder ticke ich falsch? Es ist ja nicht ganz einfach, immer an der Hypothese festzuhalten, dass die anderen alle falsch ticken. Nun haben wir solche gravierenden Umordnungsprozesse auf der Ebene der globalen Verhältnisse und da stellt sich die Frage: Welche Figuren, die meine politische Identität über Jahrzehnte geprägt haben, muss ich möglicherweise verabschieden?

Ich finde es originell, das ausgerechnet mich zu fragen. Diejenigen, deren Weltbild gerade in sich zusammenstürzt, sind die Transatlantiker. Ich bin kein Transatlantiker, ich hatte immer ein sehr kritisches Verhältnis zu den USA, schon aus biografischen Gründen. Die große Herausforderung besteht für diejenigen, die sich über Jahrzehnte bemüht haben, in den USA nicht nur die Guten zu sehen, sondern auch den gesamten Kompass an den Vereinigten Staaten auszurichten. Die müssen sich jetzt fragen: Was war daran richtig, was war daran falsch? Und wie könnte man den Kompass neu -justieren? Aber was machen Leute, wenn sie merken, dass vieles von dem, wie sie die Welt gesehen haben, offensichtlich nicht ganz richtig war? Sie verstärken ihren Trotz.

Das heißt?

Das heißt, so weiterzumachen, als ob es die alten USA noch gäbe. Wir erleben also im Augenblick gerade eine Politik im Modus des „Als ob“. Als ob es die alten USA noch gäbe. Als ob es den „Westen“ noch gäbe. Als ob Europa die alten USA ersetzen könnte. Ich glaube, dass diese Trotzphase nicht lange anhält, weil sie einfach innerhalb kürzester Zeit an der Realität zerbrechen wird.

Bild: Sofia Brandes
Richard David Precht

Jahrgang 1964, wuchs in Solingen auf, nach eigener Erzählung in einem Elternhaus von 68ern, Marxisten und Atheisten. Zivildienst, literaturwissenschaftliche Dissertation über Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Precht lebt in Düsseldorf.

Das Brechen des Transatlantismus und diese Übernahme des amerikanischen Staates durch eine Broligarchie können durchaus zur Schlussfolgerung führen: Es muss eine Neuerfindung oder möglichst schnelle Einigung von Europa geben. Weshalb man bei aller Kritik an Koalitionsvertrag und Personal für eine möglichst schnelle Regierungsbildung in Deutschland sein musste, unter einem Bundeskanzler Friedrich Merz – weil das sonst mit Europa nicht funktioniert. Sind Sie da völlig frei davon?

Mich hat die Regierungsbildung jetzt nicht fasziniert und ihr Tempo war für mich auch nicht so wichtig. Weil ich den im Augenblick handelnden Akteuren leider kaum neue und eigenständige Ideen für Europa zutraue. Ich halte die neue Regierung diesbezüglich für eine Übergangsregierung, wir haben viel Trotz statt Weitsicht. Denn ihre Idee für ein zukünftiges Europa besteht im Wesentlichen darin, ein Kern-Europa zu bilden aus Frankreich, Deutschland, Polen, das so etwas fortsetzt wie die Politik der alten USA. Und alle, die da nicht mitmachen, sollen an Bedeutung verlieren. Das wäre allerdings kein Aufbruch, sondern das Ende Europas. Es ist ein Anschlag auf die Grundidee der Europäischen Union, und der wird sich nicht durchsetzen. So, und diese Erfahrung muss man jetzt offensichtlich erst einmal machen, um später aus dem Scheitern zu lernen. Erst dann ist der Nährboden dafür da, tatsächlich neu über Europa nachzudenken.

Deutschland solle endlich Führung übernehmen, lautet der Tenor.

Deutschland gehört leider zunehmend zu den arrogant auftretenden Ländern, lustigerweise auch die Engländer, die gar nicht mehr in der EU sind. Diese Staaten müssen realisieren, dass sie nicht mehr wie in früheren Zeiten die Geschichte Europas prägen. Das ist die Lernaufgabe, vor der wir stehen. Das Lernen fängt erst dann an, wenn man einsieht, dass man auch von den anderen lernen muss und nicht nur die anderen von einem selbst.

Europa beantwortet also diese Frage „Wer bin ich?“ illusorisch?

Im Augenblick beantwortet Europa die Frage „Wer bin ich?“ mit: Wir sind ein Verteidigungsbollwerk. Wir haben einen äußeren Feind, und dieser äußere Feind soll uns jetzt helfen, als Notgemeinschaft zueinanderzufinden. Diese Idee wird aber nicht lange währen und das wird auch nicht lange ausreichen.

„Ich sehe Donald Trump nicht als Unfall der Geschichte.“

Kann Europa überhaupt die Idee von sich erneuern?

Naja, das wird es ja wohl müssen. Ich gehöre zu denen, die davon ausgehen, dass die USA nach vier Jahren Donald Trump nicht mehr auf den Kurs zurückkehren, auf dem sie vorher waren. Ich könnte mir auch sehr gut vorstellen, dass Trump genug Strohfeuererfolge vorzuweisen hat, dass Vance möglicherweise sein Nachfolger wird. Dann würde sich an der Politik gar nicht so viel ändern. Und ich glaube auch, es liegt eine Logik darin.

Nämlich?

Ich sehe Donald Trump nicht als Unfall der Geschichte, ich denke da in längeren historischen Dimensionen. Ich brauche hier nicht zu erzählen, dass wir in einer durch und durch kapitalistischen Welt leben. Das nennt man kulturellen Kapitalismus. Es gibt a) keine anderen Systeme mehr auf der Welt, und b) ist unser ganzes Leben auf Effizienz und Optimum und so weiter gebürstet. Das heißt, wir haben eine komplett kapitalistische DNA. Wir sind viel kapitalistischer, als wir das vor zwanzig oder vor dreißig Jahren waren.

Worauf wollen Sie hinaus?

Wieso soll ausgerechnet die Politik ein kapitalismusfreier Raum sein? Das ist der Schritt, der von Donald Trump vollzogen wird: Die Politik wirft auch alles über Bord, was nicht nach den Gesetzen des Kapitalismus vernünftig ist. Man führt ein Land wie eine Firma, genauer, wie eine Immobilienfirma. Marx sagt, der Kapitalismus breitet sich immer weiter aus und er wird alles erobern. So gesehen ist es ein logischer Prozess, dass irgendwann im kapitalistischsten Land der Welt ein Präsident an die Macht kommt, der sagt: Erzählt mir nichts mehr von Werten, von Ideologien, von Weltanschauungen und so weiter.

Aber das wirft die Frage auf: Was wird aus den Guten, was wird aus uns? Demokratische Rechtsstaaten und kulturelle Liberalität geraten massiv unter Druck.

Ja, das gerät unter Druck. Aber ich sehe ja die Geschichte nicht wie Fukuyama, sondern eben eher wie Hegel und Marx als einen dialektischen Prozess. Allerdings ohne festgelegtes Ziel. Ich bin ziemlich sicher, dass jede Bewegung ihre Gegenbewegung hervorruft. Deswegen sehe ich im ultimativ kapitalistischen Staat, von dem ich mir auch vorstellen kann, dass er letztlich scheitert, die Folie, auf der irgendwann eine neue Gesellschaftsordnung entstehen kann. Wenn Marx heute noch leben würde, würde er lachen und sagen: Das ist eine konsequente Entwicklung! Der Staat muss genau in den Zustand kommen, in dem er unter Donald Trump ist, damit eine andere Politik möglich wird.

„Ich sehe, was die Klimapolitik anbelangt, zwischen Donald Trump, Robert Habeck und Friedrich Merz nur kleine graduelle Unterschiede.“

Was ist mit dem Schaden, der angerichtet wird, Antiklimaschutzpolitik, Antidiversitätspolitik, gerade die Zerstörungen sind nicht einfach wieder zu reparieren, auch nicht unter anderen Bedingungen.

Ja klar, der Schaden, der angerichtet wird, ist gigantisch. Aber ich sehe, was die Klimapolitik anbelangt, zwischen Donald Trump, Robert Habeck und Friedrich Merz nur kleine graduelle Unterschiede.

Wirklich?

Ja, alle sind sich einig, dass das kein Thema mehr ist. Alle drei haben aufgegeben.

Das ist jetzt von zu weit oben gesprochen.

Ach, die einen geben es zu und die anderen geben es nicht zu. Die große historische Aufgabe ist es, uns jetzt darauf vorzubereiten, dass in vielleicht hundert Jahren die Erde für die allermeisten Menschen nicht mehr bewohnbar sein wird. Und das ist eine enorme metaphysische Herausforderung, die für Philosophen interessant ist. Wie geht man damit um, wenn der eigene Tod zugleich der Artentod ist? Wir sind das noch nicht, aber vielleicht schon unsere Urenkel sind die Generation Lonesome George.

Bildungslücke. Klären Sie uns auf.

Lonesome George war die letzte Galapagos-Schildkröte ihrer Art, die noch Darwin gekannt hat und die kein Weibchen mehr gefunden hat, weil sie eben die letzte war. Ihr Tod war gleichzeitig der Artentod. Das ist eine Situation, die in möglicherweise hundert Jahren auf uns zukommen wird.

Auf den Letzten von uns?

Das Interessante ist: Nachdem wir zwanzig Jahre über Transformation und ökologischen Umbau der Gesellschaft gesprochen haben, haben nun alle eingesehen, dass es nicht geht. Dass man damit Wahlen verliert, dass am Ende dann vielleicht die Rechtspopulisten an die Macht kommen oder Radikalkapitalisten wie Donald Trump. Dass der Kapitalismus diesbezüglich nicht erneuerungsfähig ist. Das ist die große Lektion, die wir gelernt haben. Vor allen Dingen ist es die Lektion, die die Grünen gelernt haben, die sich sukzessive von ihren großen Zielen verabschiedet haben.

Das werfen Sie ihnen vor?

Dass sie sich nicht ehrlich machen! Und ihren Wählern nicht erzählen, dass sie aufgegeben haben, sondern einfach über ihr Kernthema schweigen. Es ist fünf nach zwölf und die Grünen schreiben „Zuversicht“ aufs Plakat. Genau meine Art von Humor. Selbst wenn die Grünen noch in der Regierung wären, hätten sie alles, was mit Ökologie zu tun hat, massiv zurückgefahren. Weil sie wissen, dass man sich damit nur unbeliebt macht. Das haben sie in den drei Jahren schmerzlich gemerkt, in denen sie in der Regierung waren und nur einen Bruchteil dessen realisieren konnten, was sie sich vorgenommen hatten. Wohin wir in der Politik schauen: Fast alle haben aufgegeben, aber keiner sagt es.

Folgt daraus, dass das in Ihrem Denken und Publizieren und den öffentlichen Einlassungen keine Rolle mehr spielt?

Doch, für mich spielt es noch immer eine Rolle. Etwa, wenn man sich den Irrsinn anguckt, dass wir jetzt für über eine Billion aufrüsten und dass an keiner Stelle in der ganzen Diskussion über CO2-Emissionen geredet wird. Oder den enormen Verbrauch an Öl sieht, den das Militär hat. Ich finde, es wäre schon schön, wenn die Zeit bis zu unserem kollektiven Suizid noch möglichst lange dauert. Jetzt verkürzen wir diese Zeit auch noch! Und darüber wird derzeit überhaupt nicht geredet. Schon gar nicht von den Grünen. Es ist doch irre, dass aufgeklärte Menschen im Jahr 2025 mehr Angst vor Russen haben als vor dem Klimatod …

„Ich habe mich noch nie vor Russen gefürchtet.“

Na ja, die Atomraketen der Russen in Königsberg sind ein paar Flugminuten von Berlin entfernt. Das ist eine andere gefühlte Bedrohung als ein Klimakollaps.

Ja, für Sie vielleicht. Ich habe mich noch nie vor Russen gefürchtet.

Die Frage ist ja immer, warum funktioniert Klima nicht handlungs-dynamisierend? Und es funktioniert nicht, weil es weiter weg zu sein scheint.

Ja, klar. Deswegen haben die Leute auch mehr Angst vor Terrorismus oder vor Überfremdung.

Es kommt noch etwas hinzu: In dem Augenblick, wo etwas sich als aussichtslos herausstellt, kannst du extra weitermachen. Dass diese Zerstörung von Welt sich beschleunigt, hat eine psychologische Logik.

Ich würde sogar sagen, psychologisch gesehen ersetzt die Angst vor den Russen die Angst vor dem ökologischen Desaster. Und gegen die Russen meint man, etwas tun zu können, nämlich aufrüsten. Gegen das ökologische Desaster weiß man, dass man nichts mehr tun kann. Es geht immer um Angstmanagement in der Politik. Es geht immer darum, das Narrativ zu bestimmen, vor was die Leute sich fürchten sollen. Und da kommen die Russen, ob bewusst oder unbewusst, irgendwie gelegen. Wir alle wissen, dass wir im Riesen-tempo auf den Abgrund zufahren. Und jetzt fürchten wir uns nicht mehr vor dem Abgrund, sondern vor den anderen Passagieren in unserem Wagen.

Wir können doch bei allem Bewusstsein für die Unwahrscheinlichkeit von ernsthafter Klimapolitik nicht einfach die Bewohnbarkeit der Erde für Menschen abhaken mit einer Heiterkeit, wie sie der Wissenschaftler James Lovelock ausstrahlte?

Anders als James Lovelock bin ich kein Biozentriker. Ich kann auch der anthropozentrischen Perspektive viel abgewinnen, obwohl Homo sapiens nicht gerade zu meinen Lieblingstieren gehört. Aber Menschen haben eben nicht nur Gräuel, sondern auch soziale, kulturelle und andere wunderschöne Dinge hervorgebracht, sie sind liebes- und empathiefähig. Dass dieses Tier bald ausstirbt, ist nichts, was mir – anders als Lovelock – irgendein Vergnügen bereitet. Andererseits ist mir der Gedanke von Lovelock nicht völlig fern, als jemand, der sich leidenschaftlich für Natur interessiert. Wie wird sich die Erde eines Tages regenerieren, wenn der Mensch weg ist? Ich würde aber diesem Gedanken nie einen Vorrang geben vor dem Versuch, alles zu tun, um die Zeit, die Menschen auf diesem Planeten haben, noch zu verlängern und so angenehm wie möglich zu gestalten.

Das ist einfach nur eine fucking Philosophenperspektive.

Wieso? Es ist in gewisser Hinsicht trostspendend.

Wie das?

Wenn du wie ich viel Liebe für die Natur aufbringst und dich für jeden einzelnen seltenen Falken interessierst und für jeden Käfer und so weiter, und das ist bei mir ja wirklich der Fall – dann ist das keine Philosophen-Attitüde. Die Natur ist ja tatsächlich etwas, was mich mit großem Glück und viel Ehrfurcht erfüllt. Wenn sich das alles wieder frei und neu entfalten kann, dann hat das doch irgendwie auch eine tröstende Dimension. Bedauerlicherweise bekomme ich davon nichts mit und künftige Menschen auch nicht.

Schauen wir auch auf die Menschengenerationen, die den Prozess des Niedergangs abkriegt, insbesondere die Enkel-generation, die in den Nullerjahren geboren ist.

Das mache ich, und die Selbstausrottung der Menschheit ist wirklich eine Katastrophe. Deswegen habe ich ja auch gesagt, ich kann diese anthropozentrische Perspektive nicht wirklich verlassen. Dafür bin ich ein viel zu sozialer und empathischer Mensch und engagiere mich auch entsprechend. Mein ganzes öffentliches Wirken ist darauf ausgerichtet! Die biozentrische Perspektive ist nicht mehr als ein letzter Trost im Kofferraum.

Also sollten wir denn jetzt die Bundeswehr nicht aufrüsten und was stattdessen machen? Den Putin einen guten Mann sein lassen?

Also, das ist eine verzerrte Frage. Harald Welzer und ich haben in den letzten drei Jahren, solange der russische Angriffskrieg anhält, immer wieder bedauert, dass es keine ernsthaften diplomatischen Offensiven vonseiten Deutschlands oder besser der Europäischen Union gegeben hat. Das Erste, was man machen müsste, wäre, diese Kanäle wiederherzustellen, weil die Russen genauso wenig Interesse an einer Überrüstung haben können wie die Europäische Union. Letztlich halten das beide ökonomisch nicht durch, von der gerade erwähnten ökologischen Katastrophe ganz zu schweigen. Das ist eine ziemlich gute Voraussetzung, um zu Kompromissen und zu einer langfristigen, stabilen Friedensordnung zu kommen. Von der ist derzeit ja nirgendwo die Rede. Wo sind eigentlich die Szenarien einer künftigen Friedensordnung in Europa jenseits der bisherigen expansiven NATO-Strategie und der aggressiven russischen Reaktion darauf?

Und leben wir denn jetzt in einer anderen Welt oder nicht?

Ich sehe, was Russland anbelangt, keine allzu große Gefahr. Die russische Armee hat sich als sehr viel schwächer herausgestellt, als wir zu Kriegsanfang geglaubt haben. Es sind jetzt drei Jahre Krieg, und sie sind bei Weitem nicht so vorwärtsgekommen in der Ukraine, wie sie sich das vorgestellt hatten. Außerdem macht es einen Riesenunterschied, ob man ein Land angreift, das nicht in der NATO ist, oder ob man ein NATO-Land angreift. Deswegen sind ja Finnland und Schweden sofort in die NATO gegangen, weil sie dann safe sind. Aus dem gleichen Grund ist das Baltikum auch safe. Warum sollte Russland so leichtsinnig mit dem Dritten Weltkrieg zündeln? Daran ist alles unwahrscheinlich.

Das sehen Militärexperten anders.

Militärexperten bereiten sich auf das Worst-Case-Szenario vor, und je intensiver sie das tun, umso wahrscheinlicher erscheint es ihnen. Das ist ein bekannter sozialpsychologischer Prozess. In den Planspielen geht es meist um Litauen. Man hat Angst, dass die NATO im Zweifelsfall Litauen nicht verteidigen wird. Und könnte das nicht wirklich sein? Riskieren wir für Litauen einen Dritten Weltkrieg samt dem möglichen Ende der ganzen Menschheit? Die Panik der Militärexperten rührt daher, dass die NATO den Glauben an sich selbst verloren hat, nachdem die Amerikaner deutlich gemacht haben, dass sie im Zweifelsfall NATO-Staaten in Europa nicht verteidigen würden. Zumindest trauen wir Donald Trump zu, dass er das nicht tut. Die NATO wurde von Anfang an zusammengehalten durch die normative Kraft des Fiktiven, dass man tatsächlich füreinander einsteht. Doch das steht auf einmal infrage und damit auch die Abschreckungskraft der NATO. Der Grund der großen Beunruhigung ist damit eigentlich nicht die Angst vor Putin, sondern es ist die Angst davor, dass die NATO als NATO, wenn es hart auf hart kommt, nicht funktioniert.

Bild: Jens Steingaesser
Harald Welzer

Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik taz FUTURZWEI.

Unsere Titelfrage „Wer bin ich?“ bezieht sich auch auf die Bundesrepublik und das Selbstbild des Bundesdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Keine anderen Länder mehr angreifen, dafür schön fleißig arbeiten, Weltmarktführer sein und so weiter. Nun werden die ignorierten Grundlagen unseres guten Lebens sichtbar, die bröckeln: kostenloser amerikanischer Schutz, billiges russisches Gas, Wohlstand durch den chinesischen Markt.

Die Gefahr, dass Deutschland einen wirtschaftlichen Abstieg hinlegen wird, ist in der Tat groß. Das hat aber nichts zu tun mit dem amerikanischen Schutz. Das hat schon mehr damit zu tun, dass wir das billige russische Gas nicht mehr haben. Das hat viel damit zu tun, dass der chinesische Markt für viele deutsche Wirtschaftsprodukte, insbesondere für Autos, mittelfristig nicht mehr funktioniert. Und es hat damit zu tun, dass Deutschland es im Augenblick nicht schafft, eigenständige neue Geschäftsmodelle für den Zukunftsmarkt hervorzubringen. Unsere bisherigen Erfolgsmodelle laufen so langsam aus. Diese Gefahr ist in der Tat groß und die ist innenpolitisch gefährlich, weil die Unzufriedenheit der Menschen wächst. Andererseits ...

... ja?

... haben die Deutschen zwei verbrecherische Weltkriege vom Zaun gebrochen und sind nach den größten Menschheitsverbrechen, die je begangen worden sind, mit einem Wirtschaftswunder belohnt worden. Siegermächte wie England sind niedergegangen und das besiegte Deutschland ist innerhalb kürzester Zeit ökonomisch an den Siegermächten Frankreich und England vorbeigezogen. Da muss man sich auch mal zu Gemüte führen, was für eine ganz eigenartige Situation das war. Die ist historisch beispiellos.

Was folgt daraus?

Es gibt kein natürliches Anrecht der Deutschen, zu den reichsten Ländern der Welt zu gehören. Aber es gehört mittlerweile zur DNA des Deutschen, sich daran gewöhnt zu haben, dass wir zu den reichsten Ländern der Welt gehören.

Wir sehen das als Gewohnheitsrecht.

Das ist eine Art Gewohnheitsrecht, genau, aber es wird sich dauerhaft wahrscheinlich nicht aufrechterhalten lassen. Das ist politisch eine ziemlich schwierige Situation. Aber bei all den großen Sorgen, die ich mir mache, bezüglich Aufrüstung, bezüglich ökologischer Bedrohung, halte ich die Zukunft der Deutschen für ein etwas kleineres Problem.

Bild: Paulina Unfried
Peter Unfried

Peter Unfried ist Chefreporter der taz und Chefredakteur von taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik. Außerdem Kolumnist und Autor. Spezialinteresse: Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen ernsthafte Klimapolitik möglich wird. Unfried lebt in Berlin-Kreuzberg und wuchs in Stimpfach, Baden-Württemberg, auf.

Harald Welzer vertritt im Titelessay die These, dass die Systeme kollabieren, aber dass wir Boomer es noch schön rausschaffen.

Was uns auf jeden Fall noch trifft, ist der Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Wir werden ja in Massen -irgendwann in den Pflegeheimen und den Krankenstationen liegen. Ein Staat, der in die Dauerrezession schlittert und jetzt schon riesige Probleme hat, das Gesundheitssystem zu finanzieren, der wird nicht in der Lage sein, das zu wenden.

Heißt?

Man muss reich genug geworden sein, um gepflegt alt werden zu können. Es ist interessant, wie viele Menschen im Augenblick ihr ganzes Leben auf Longevity ausrichten, sodass sie möglichst fit hundert werden. Das heißt, jeder spekuliert, dass er persönlich gesund aus der Sache herauskommt. Aber bei den Millionen, die wir sind, werden wir überhaupt nicht gesund aus der Sache rauskommen. Wenn wir kein funktionierendes Gemeinwohl mehr haben, können wir alle Long-evity-Fantasien in der Pfeife rauchen.

Wo ist denn nun das begründet Positive?

Ich habe nichts Negatives gesagt. Ich habe ja versucht, allem noch etwas Gutes abzugewinnen.

Es gibt doch eine große Zahl von Leuten in der Mitte der Gesellschaft, die zumindest bedingt aufbruchbereit sind. Das ist ein Potenzial, um etwas hinzukriegen.

Das es sehr viele nette, bewusste, engagierte Bürger gibt, das erkenne ich mit Freude an. Und selbst wenn man es für sehr unwahrscheinlich hält, dass das Ganze noch ein gutes Ende nimmt, ist es doch großartig, dass es diese Menschen gibt. In einer Überflussgesellschaft finden sich hinreichend gut situierte Menschen zusammen, um sich für das Klima, das Gemeinwohl und so weiter einzusetzen und die viel Zeit zum Nachdenken haben und hinreichend Geld in der Tasche, um sich weiterreichende Gedanken darüber zu machen, dass man auch ohne Geld leben kann. Wenn wir aber über zukünftige Strategien nachdenken, müssen wir über eine mutmaßliche Rezessionsgesellschaft nachdenken, also über eine Gesellschaft auf dem ökonomisch absteigenden Ast. Und da sollten wir jetzt mal in der Geschichte fahnden, welche guten Beispiele es gibt, dass in Gesellschaften auf dem absteigenden Ast durch bürgerliche Initiative sich etwas zum Besseren gewendet hat.

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