piwik no script img

Report aus der ZukunftArbeit wird geil

Die Rente wird kleiner, das Eintrittsalter höher. Wo führt das hin? Unsere Korrespondentin aus 2053 berichtet von überraschenden Verbesserungen.

In 30 Jahren ist endlich wieder mehr Zeit zum Gärtnern Foto: Rudi Sebastian/plainpicture

Stell dir vor, es ist das Jahr 2053. Selbst die jüngsten Menschen aus den Babyboomer-Jahrgängen sind jetzt über 80 Jahre alt und schon lange in Rente. Die Alterspyramide hat sich verändert: Längst ist sie kein Tannenbaum mehr, unten breit und oben spitz. Breit ist sie jetzt oben, wo die älteren Menschen abgebildet werden. Denn von denen gibt es im Jahr 2053 ganz schön viele.

Vor 30 Jahren, im Jahr 2023, wurde in drastischen Worten vor dieser Situation gewarnt. Schlimme Befürchtungen gab es damals: Eine völlig überalterte Gesellschaft. Viel zu viele Menschen, die gepflegt werden müssen, und viel zu wenig Pflegekräfte. Keiner darf mehr mit Mitte 60 in Rente gehen, und die Rente selbst sinkt und sinkt.

Doch es ist anders gekommen. Der demografische Wandel hat die Arbeitswelt nicht schlechter, sondern besser gemacht. Dafür mussten Gesetze verändert, abgeschafft und verabschiedet werden, Unternehmen mussten sich neu ausrichten, die Gesellschaft musste sich verändern.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Schauen wir uns die fünf wichtigsten Verbesserungen genauer an.

Arbeit: mehr Geld, höhere Lebensqualität

2023 war den meisten Ar­beit­neh­me­r:in­nen in Deutschland gar nicht bewusst, dass sich ihre Situation in den letzten 30 Jahren immer weiter verschlechtert hatte. In dieser Zeit war nämlich die Lohnquote, ein Indikator für gerechte Einkommensverteilung, immer weiter gesunken. Mit der Lohnquote wird angegeben, wie viel von dem, was insgesamt erwirtschaftet wird, bei den Ar­beit­neh­me­r:in­nen ankommt. Ist sie niedrig, bedeutet das: Von dem, was in einem Betrieb erwirtschaftet wird, geht viel an denjenigen, dem der Betrieb gehört, und wenig an die, die dort arbeiten.

„Unternehmen werden vor die Wahl gestellt, entweder die Löhne zu erhöhen oder kein Personal mehr zu finden.“

Marcel Fratzscher, Makroökonom

So war die Situation im Jahr 2023. Doch als der Anteil der Menschen im Erwerbsalter, wie es in der Statistik-Sprache heißt, also der Anteil der 20- bis 66-Jährigen, immer weiter sank, war damit Schluss. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hatte schon im Juni 2023 vorausgesagt, dass es so kommen würde. „Unternehmen werden zunehmend vor die Wahl gestellt, entweder auf einen Teil ihres Gewinns zu verzichten und die Löhne zu erhöhen, oder kein Personal mehr zu finden und gute Mitarbeitende zu verlieren“, sagte er damals am Telefon, als ich für einen taz-Artikel recherchierte.

Und genau so kam es: Der Konkurrenzkampf um Arbeitskräfte führte dazu, dass in fast allen Branchen die Löhne erhöht wurden. Der deutsche Niedriglohnsektor, lange Zeit einer der größten in der EU, wurde immer kleiner. Auszubildende bekamen mehr Geld, weil sich zu den bisherigen Bedingungen niemand mehr fand, der eine Ausbildung machen wollte.

Die höheren Löhne entlasteten den Sozialstaat, da immer weniger Menschen ihr schlechtes Gehalt mit Hartz IV aufstocken mussten. Wer mehr verdient, bekommt auch eine höhere Rente, deswegen ging die Altersarmut zurück. Und nicht nur die Löhne stiegen, auch die Arbeitsbedingungen verbesserten sich. Weil Ar­beit­neh­me­r:in­nen in einer besseren Position waren, konnten sie die Erfüllung vieler Wünsche durchsetzen, etwa mehr Home­office oder flexiblere Arbeitszeiten.

Die größten Verbesserungen gab es aber nicht bei den Jobs für Aka­demiker:innen, sondern in den Berufen, die körperlich oder psychisch belastend sind, etwa auf dem Bau oder in der Pflege. Noch im Jahr 2023 war es normal, dass Menschen in solchen Berufen nicht bis Mitte 60 arbeiten konnten, weil die gesundheitlichen Probleme bereits vorher zu groß wurden. Sie mussten unfreiwillig frühzeitig in Rente gehen und wurden auch noch mit einer deutlich geringer ausfallenden Rente bestraft.

„Dass Arbeitnehmer schon mit Ende 50 aus dem Berufsleben ausscheiden, werden sich Arbeitgeber nicht mehr leisten können“, hatte mir Enzo Weber, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, im Juni 2023 erklärt. Seine Prognose wurde wahr. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, lange ein sehr vernachlässigtes Thema, entwickelte sich in den folgenden Jahren für viele Unternehmen zu einer der höchsten Prioritäten. In Handwerksbetrieben, Krankenhäusern, im Baugewerbe oder in der Gastronomie wurde die Arbeit so umgestaltet, dass sich heute körperlich anstrengende und weniger anstrengende Tätigkeiten im Laufe eines Arbeitslebens abwechseln. Das Ergebnis: Heute bezieht kaum noch jemand Frührente.

Bildung: Lebenslanges Lernen

Damit eine Krankenschwester in die Krankenhausverwaltung wechseln kann, um einer körperlich weniger anstrengenden Arbeit nachzugehen, sind Weiterbildungen notwendig. Heute, im Jahr 2053, für Ar­beit­neh­me­r:in­nen eine Selbstverständlichkeit. Die Bedürfnisse von Menschen verändern sich ebenso schnell wie die Arbeitswelt, und die rasante Entwicklung etwa von künstlicher Intelligenz bedeutet, dass sich Tätigkeiten immer wieder verändern. „Wir brauchen eine kontinuierliche Weiterbildung über das gesamte Berufsleben. Solche Möglichkeiten, von Beginn an, machen einen Job attraktiv“, hatte Enzo Weber 2023 gesagt. Heute muss niemand mehr um Fortbildungen kämpfen, es ist zur neuen Normalität geworden, dass sie vom Arbeitgeber bezahlt werden.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Bildungsmöglichkeiten sind auch da besser geworden, wo das Arbeitsleben noch gar nicht begonnen hat: in der Schule. Es gibt heute weniger Schü­le­r:in­nen und dadurch mehr Ressourcen pro Schüler:in. Vor allem kann sich Deutschland einfach nicht mehr leisten, dass Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. Vor 30 Jahren gab es jedes Jahr noch rund 50.000 Schul­ab­gän­ge­r:in­nen ohne Abschluss, nur ein Drittel von ihnen fand einen Job. Das wäre heute undenkbar, auf diese Arbeitskräfte können wir nicht verzichten.

Das bessere Bildungssystem kostet natürlich Geld. Aber die Politik hat endlich verstanden, was Ex­per­t:in­nen schon lange gesagt haben: Kaum etwas lohnt sich, auch rein ökonomisch betrachtet, so sehr wie Investitionen in die Bildung. „Jeder Euro, der ins Schulsystem gesteckt wird, kommt doppelt und dreifach zurück“, sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher dazu. Seit Po­li­ti­ke­r:in­nen gelernt haben, nicht mehr nur bis zu nächsten Wahl zu denken, wird das auch umgesetzt.

Gleichstellung: Familie und Beruf

Heute kann man diese Zahlen kaum glauben, aber es ist wahr: Vor 30 Jahren arbeitete jede zweite erwerbstätige Frau in Teilzeit. Oft nicht freiwillig – gerade Mütter von kleinen Kindern wünschten sich damals häufig, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Das scheiterte an mangelnder Kinderbetreuung; fast 380.000 Kitaplätze fehlten damals in Deutschland. Das Ehegattensplitting führte außerdem dazu, dass es sich für viele verheiratete Frauen nicht lohnte, mehr zu arbeiten.

Kaum jemand weiß heute noch, was Ehegattensplitting überhaupt ist, so lange ist es her, dass diese diskriminierende Form der Besteuerung abgeschafft wurde. Weil man es sich nicht länger leisten konnte, auf die Arbeitskraft von Frauen und Müttern zu verzichten, finden heute auch alle einen Kitaplatz, die einen brauchen. Dass die Arbeitsbedingungen für Er­zie­he­r:in­nen verbessert wurden, die heute fast so viel verdienen wie Ärzt:innen, versteht sich von selbst.

Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie könnte sich in Zukunft verbessern Foto: Rudi Sebastian/plainpicture

Kinderkriegen bedeutet deswegen keinen Karriereknick mehr. Das war lange anders: „Frauen gehen im Durchschnitt besser ausgebildet als Männer in den Arbeitsmarkt, aber mit der Kinderphase kommt ein Knick, von dem sich die qualitative berufliche Entwicklung oft nicht mehr erholt“, hatte Enzo Weber die Situation beschrieben. Wenn Mütter oder Väter kleiner Kinder heute vorübergehend ihre Stunden reduzieren, gilt das nicht mehr als karriereschädigend. Flexibles und mobiles Arbeiten ist für Eltern längst zur Normalität geworden. Vielleicht bekommen auch deshalb gerade Aka­de­mi­ke­r:in­nen wieder in deutlich jüngerem Alter Kinder.

Migration: Anreize statt Abschreckung

Im europaweiten Vergleich arbeiteten Mi­gran­t:in­nen in Deutschland im Jahr 2023 besonders viel in Berufen, für die man nur geringe Qualifikationen braucht. Das lag nicht an ihnen, viele von ihnen waren überqualifiziert für ihre Jobs. Doch in Deutschland war es besonders schwer, ausländische Abschlüsse anerkannt zu bekommen. Dazu kam das äußerst komplizierte deutsche Aufenthaltsrecht, das abschreckend wirkte – was ja durchaus auch beabsichtigt war.

Dass die deutsche Wirtschaft ohne Ein­wan­de­r:in­nen keine Chance haben würde, war auch 2023 schon klar: Ohne Migration wäre die deutsche Bevölkerung auch damals längst geschrumpft. Das in dieser Zeit verabschiedete Fachkräfte-Einwanderungsgesetz war ein erster Schritt, die Hürden zu senken, doch auch damit gab es immer noch viel zu viele bürokratische Hürden. Von rassistischer Stimmungsmache ganz zu schweigen.

Jahrelang hatte Deutschland vor allem auf Einwanderung aus Osteuropa gesetzt, doch die dortigen Gesellschaften alterten mindestens genauso schnell wie die deutsche. Deswegen mussten Anreize für Mi­gran­t:in­nen aus afrikanischen, südamerikanischen und asiatischen Ländern geschaffen werden. Die allerdings konnten genauso gut in Länder wie Kanada auswandern, in denen Migration längst einen viel höheren Stellenwert hatte. Dabei ging es längst nicht nur um hochqualifizierte Menschen, schließlich fehlte das Personal quer durch alle Branchen und Qualifikationsstufen. Es musste erst noch schlimmer werden, bevor es besser werden konnte, dann verstanden deutsche Unternehmen, dass sie ohne migrantische Arbeitskräfte keine Chance hatten.

Deutsche Unternehmen haben eingesehen, dass sie ohne migrantische Arbeitskräfte keine Chance haben.

Rassistische Stimmungsmache der AfD oder CDU wurde immer unpopulärer. Je mehr Mi­gran­t:in­nen kamen und umso besser ihre Möglichkeiten in Deutschland wurden, desto stärker prägten sie die deutsche Gesellschaft. Heute bestimmen sie entscheidend mit, was in Deutschland passiert. Kaum zu glauben, dass es weniger als 30 Jahre her ist, dass Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland nicht einmal wählen gehen durften.

Lebenswege: Mehr Freiheit

Studier bloß keine Geisteswissenschaften, damit wird man nur Taxifahrer. Wer keine unbezahlten Praktika macht, kriegt auch keinen Job. Wenn du dich auf der Arbeit nicht genug anstrengst, musst du aufpassen – das Heer der Arbeitslosen wartet nur darauf, deine Stelle zu übernehmen. Und wer arbeitslos ist, ist selbst schuld, faul, unrasiert und ungewaschen.

So klang Deutschland in den Nullerjahren. Arbeitgeber waren in einer Machtposition: Sie konnten sich die Arbeitskräfte aussuchen. Gleichzeitig wurde so getan, als sei Arbeitslosigkeit kein strukturelles, sondern ein persönliches Problem. Menschen wurden abgewertet, weil sie ökonomisch nicht gebraucht wurden.

Damit ist es längst vorbei. Junge Menschen können frei entscheiden, welche Ausbildung sie machen wollen oder was sie studieren, denn gebraucht werden sie überall. Wer will, findet eine Beschäftigung, und zwar eine, die ein würdiges Leben ermöglicht. Auch in der Industrie sind Betriebe so organisiert, dass Menschen auch nur drei oder vier Tage die Woche arbeiten können, wenn sie das möchten – dafür waren Umstrukturierungen nötig, aber das konnten die Ar­beit­neh­me­r:in­nen durchsetzen.

Wer möchte, kann heute auch mit Ende 50 noch einmal in einem anderen Beruf neu anfangen. Zweitstudien werden großzügig gefördert. Die Arbeitsstelle zu wechseln ist erst recht kein Problem. Ältere Ar­beit­neh­me­r:in­nen werden gebraucht, sie zu diskriminieren, kann sich keiner mehr leisten.

Weil Familiengründung keinen Karriereknick mehr bedeutet, ist gerade für Frauen die Lebensphase zwischen Ausbildung und Geburt der Kinder entspannter geworden. Sie müssen jetzt nicht mehr versuchen, die gesamte berufliche Entwicklung schon in dieser Zeit zu schaffen. Männer wiederum können es sich leisten, wegen der Familie oder aus anderen Gründen mal ein paar Jahre weniger zu arbeiten – dass sie jederzeit auf eine Vollzeitstelle zurückkehren können, ist klar.

Früher war die Biografie stark dreigeteilt: In jungen Jahren die Ausbildung, dann die Arbeit, am Lebensende dann die Freizeit. Das ist heute anders, die drei Elemente verteilen sich gleichmäßiger. Weil es heute nicht nur mehr alte Menschen gibt, sondern alte Menschen auch länger fit sind, ist das für viele ein guter Deal. Viele Menschen arbeiten gern noch ein paar Stunden die Woche, auch wenn sie schon älter als Mitte 60 sind, und dafür besteht das Leben zwischen 30 und 50 – früher nannte man diese Jahre die „Rushhour des Lebens“ – jetzt nicht mehr nur aus Arbeit und Fürsorge.

Zurück ins Jahr 2023

Klar ist: Die positiven Entwicklungen dieses Gedankenexperiments sind kein Selbstläufer. Dass Po­li­ti­ke­r:in­nen über die nächste Wiederwahl hinaus denken und Ar­beit­ge­be­r:in­nen auf Macht und Profit verzichten, ist zwar langfristig wirtschaftlich sinnvoll, aber das heißt nicht, dass es von alleine geschieht. Auch in 30 Jahren werden Verbesserungen für Arbeitnehmer:innen, Frauen oder Mi­gran­t:in­nen von diesen erkämpft werden müssen.

Doch die Ausgangsbedingungen dieser Kämpfe werden sich durch den demografischen Wandel nicht verschlechtern, sondern verbessern. Schwieriger wird die Situation hingegen für diejenigen, die ihre Angestellten schlecht behandeln, niedrige Löhne durchsetzen wollen und Migrant:innen, Frauen oder Ältere auf dem Arbeitsmarkt diskriminieren. Die Kräfteverhältnisse verschieben sich, und zwar nicht zu ihren Gunsten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen