Regionalwahlen in Frankreich: Die Front gegen rechts bröckelt
Am Sonntag beginnen die französischen Regionalwahlen. Linke und Grüne treten getrennt an, was in Macrons Kalkül passt. Doch es gibt eine Ausnahme.
Bei Frankreichs Regionalwahlen, die am Sonntag beginnen, will Delli Präsidentin des Regionalrats von Hauts-de-France werden. Doch weil ihre beiden wichtigsten Konkurrenten, Amtsinhaber Xavier Bertrand und der rechtsextreme Abgeordnete Sébastien Chenu, den meisten besser bekannt sind, wird Dellis Kampagne zu einer Aufholjagd mit ungewissem Ausgang.
In Umfragen liegt Dellis Liste auf dem dritten Platz. Ihre Aufgabe ist alles andere als leicht: Die extreme Rechte ist in allen Regionen Frankreichs stark im Kommen, und der bisherige Regionsvorsitzende Bertrand ist eine nationale Größe der konservativen Rechten. Bertrand hat sogar bereits seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl im April 2022 angemeldet. Wie in den meisten anderen Regionen hat die Regierungspartei La République en marche (LREM) in den Regionalwahlen übrigens kaum Chancen, unter den Ersten zu landen.
Delli muss und will vor allem die traditionellen Linkswähler:innen motivieren, die nach akkumulierten Enttäuschungen entweder zu Emmanuel Macron oder zu Marine Le Pens rechtsextremem Rassemblement national (RN) abgewandert sind oder aus fatalistischem Desinteresse überhaupt nicht mehr wählen mögen. Die Angst vor Le Pen oder die Berufung auf den Antifaschismus allein zieht nicht mehr. Dellis Erfolgsausweis ist, dass sie es als Grüne immerhin geschafft hat, fast alle linken Parteien in ihrer Region für eine Wahlunion zu gewinnen, was in dieser Form eine Ausnahme ist.
Votum In Frankreichs 17 Regionen werden neue Regionalräte gewählt. Die erste Runde findet am 20. Juni statt, die zweite eine Woche später.
Rechte Die Präsidentenpartei La République en Marche (LREM) regiert bisher keine Region, da sie bei der letzten Regionalwahl 2015 noch nicht existierte. Daran dürfte sich auch jetzt nichts ändern. Le Pens Rassemblement National (RN) könnte in vielen Regionen den ersten Wahlgang gewinnen.
Stimmung Es ist die letzte große Wahl vor der Präsidentschaftswahl im April 2022. Die wird wohl ein Rennen zwischen Macron und Le Pen. (taz)
Delli schreibt diesen Erfolg ihrem in Brüssel als EU-Parlamentarierin erlernten Verhandlungsgeschick zu: „Wenn es um einen Kompromiss in der EU geht, hast du nicht unbedingt Recht oder Unrecht, es handelt sich darum, eine Handlungsmöglichkeit zu finden. Genauso haben wir hier (im französischen Nordwesten, Anm. d. Red.) verstanden, dass uns mehr vereint als trennt. Es ist mir gelungen, alle meine Partner zu respektieren und ein gemeinsames Ziel zu formulieren.“
Linkes Konkurrenzdenken
Darum kandidieren auf der linken Einheitsliste neben den Grünen von Europe-Ecologie-Les Verts (EELV) auch Mitglieder von La France insoumise (LFI), den Kommunisten (PCF) und auch den Sozialisten (PS), die lange in diesem ehemaligen Kohle- und Industriegebiet den Ton angegeben hatten, jetzt aber den Grünen den Vortritt lassen, um überhaupt noch im Rennen zu sein.
In anderen Regionen Frankreichs ist aus unterschiedlichen Gründen, oft wegen politischer Divergenzen, aber auch aus geradezu sektiererisch anmutendem Eigensinn und Konkurrenzdenken, keine vergleichbare Einheit zustande gekommen. Die sonst traditionelle Linksfront Front républicain gerät zusehends ins Bröckeln. Im Burgund beispielsweise treten gleich drei linke Listen an, und prompt liegt nach Umfragen die extreme Rechte im Hinblick auf den ersten Wahlgang am kommenden Sonntag in Führung und hat sogar reelle Aussichten, diese Region zu erobern, die früher im Unterschied zur Provence-Alpes-Côte d’Azur oder zum Elsass nie stark für die extreme Rechte gewählt hatte.
Delli muss sich etwas einfallen lassen. Um die linke Einheit zu stärken und sonst demotivierte Wähler:innen zu überzeugen, setzt sie auf eine soziale und ökologische Verkehrspolitik: Die Benutzer:innen der öffentlichen Transportmittel unter 26 Jahren sollen gratis fahren, lautet ihr Wahlslogan. Sie richtet sich damit direkt an die jüngsten Stimmberechtigten, die Meinungsforschern zufolge mehrheitlich gar nicht wählen oder aber immer mehr von den demagogischen Versprechen des RN angezogen werden. Denn die Hauts-de-France – die „Höhen Frankreichs“ – sind nur dem Namen nach ganz oben, in Wirklichkeit zählen sie seit dem Ende der einstigen Kohle- und Stahlindustrie zu den ärmsten Regionen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 31 Prozent, betont Delli.
Zwischenwahlen als Generalprobe
Als neuntes von 13 Kindern einer aus Algerien eingewanderten Arbeiterfamilie weiß sie, wovon sie spricht, wenn sie solche Zahlen nennt oder von der Misere redet. Sie weiß auch, dass sie aufgrund ihrer Herkunft eine Ausnahme von der Regel ist: Sowohl mit ihrem Studium und ihrer Laufbahn wie auch mit der politischen Linkseinheit bei diesen Wahlen. Diese, so hofft sie, soll erfolgreich genug sein, um in Hinblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2022 auch landesweit als Vorbild zu dienen.
Für alle Parteien sind diese Zwischenwahlen in den Regionen und Departements ohnehin eine Art Generalprobe und ein Test für mögliche Allianzen oder Abgrenzungen. Präsident Macron erwartet von den Listen, die sich auf ihn berufen, keine spektakulären Erfolge. Seine Partei LREM hat keinen Sockel an Ämtern in den Regionen zu verteidigen. Ihm kann es hingegen für seine Wiederwahl anlässlich eines erneuten Finales gegen Marine Le Pen in zehn Monaten nur dienlich sein, wenn die linken und bürgerlich-rechten Parteien weiter geschwächt aus den Regionalwahlen hervorgehen.
Dass die Krise der traditionellen Parteien – namentlich links bei den Sozialisten und rechts im Lager von Les Républicains (der Ex-Partei von Nicolas Sarkozy) – im Gegenzug auch der extremen Rechte Auftrieb gibt, scheint er mit einer etwas kurzfristigen Sicht als kalkuliertes Risiko in Kauf zu nehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten