Regierungskrise in Großbritannien: Das Kartenhaus bricht zusammen
Nach neuen Vorwürfen der sexualisierten Gewalt wackelt die Regierung von Boris Johnson. Seine Fraktion arbeitet wieder an einem Misstrauensvotum.
Die britische Regierung des konservativen Premierministers Boris Johnson steckt seit Dienstagabend in ihrer bisher größten Krise, nachdem zwei der wichtigsten Mitglieder des Kabinetts ihren Rücktritt angekündigt hatten. Johnson verlor sowohl seinen Finanzminister Rishi Sunak als auch seinen Gesundheitsminister Javid. Auch Staatssekretäre der Regierung traten zurück. Bis Mittwochnachmittag lag die Zahl der von ministerialen Posten zurückgetretenen Menschen bei 18.
Auslöser für die Regierungskrise waren Vorwürfe der sexualisierten Gewalt gegen Chris Pincher, Vizefraktionsvorsitzender der Konservativen im Unterhaus. Am vergangenen Donnerstag wurde bekannt, dass Pincher in einer Bar eines konservativen Privatklubs nahe dem Regierungsviertel zwei Männer begrapscht hatte. Zwar trat Pincher von seinem Posten zurück und entschuldigte sich, doch es waren die irreführenden Angaben aus 10 Downing Street zur Vergangenheit Pinchers, die am Dienstag zu den spektakulären Rücktritten führten. Sie stellen nun Johnsons Überleben als Premier in Frage.
Im Unterhaus griff am Mittwoch Labour-Oppositionsführer Keir Starmer Johnson scharf an. Er zitierte das Opfer Pinchers; wie der Mann erstarrt sei, als Pincher ihm an den Hintern und dann zwischen die Beine gegriffen habe. Johnson habe einem sexuellen Triebtäter Macht zugestanden, obwohl er von dessen Vergangenheit gewusst habe, so Starmer.
Downing Street steht in der Kritik, weil der britische Regierungssprecher zunächst angegeben hatte, Johnson habe nichts von „spezifischen oder bewiesenen Klagen“ gegen Pincher gehört. Auch Johnson selbst hatte bis Dienstagmorgen dementiert, gewusst zu haben, dass Pincher schon einige Male zuvor Männer belästigt hatte. Mitglieder seines Kabinetts verteidigten Pincher stets vor Kamera und Mikrofon.
„Discountladenversion eines Harvey Weinsteins“
Doch Recherchen britischer Medien führten dazu, dass dem ehemaligen Staatssekretär des britischen Auswärtigen Amtes, Simon McDonald, schließlich der Kragen platzte: Johnson sei sehr wohl von einer Klage gegen Pincher im Jahr 2019 unterrichtet worden, so McDonald.
Daraufhin machte Johnson eine Kehrtwende: Er sei von von der Klage gegen Pincher persönlich unterrichtet worden. Wieder einmal entschuldigte sich Johnson, wie schon oft zuvor. Doch es nützte nichts – bald danach dankten die Minister Sunak und Javid ab.
Am Mittwoch versuchte sich Johnson im Unterhaus mit Aussagen über Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn zu verteidigen und führte auch an, wie oft Starmer gegen den Brexit gestimmt habe. Aber die Rede des Premiers zeigte kaum Wirkung. Die langen Gesichter auf den konservativen Bänken blieben ernst.
Der neue Skandal kommt für Johnson zu einer Zeit, in der eine andere Affäre kaum überstanden ist: Der Premier soll schon wegen Partys in 10 Downing Street währen der Coronapandemie nicht die Wahrheit vor dem Parlament gesagt haben. Dies ist weiterhin Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung. Doch auch abgesehen davon ist die Affäre um Pincher vielen wichtig: Sie könnten etwas über das Urteilsvermögen Johnsons aussagen.
Wenn sich Johnson des Fehlverhaltens bewusst war, wie er es nun selbst eingestand, weshalb hat er dann Pincher im Februar 2022 trotzdem die Verantwortung für den Fraktionszwang erteilt? „Ja, ich glaube es war ein Fehler“, entschuldigte sich Johnson kurz vor den Rücktritten. Inzwischen wird von mindestens sechs weiteren Vorfällen gesprochen, in die Pincher verwickelt sein soll. Eines seiner Opfer bezeichnete Pincher als die „Discountladenversion eines Harvey Weinstein“.
Pincher wurde am Freitag erst mit Verzögerung aus der Fraktion ausgeschlossen. Die Suspendierung gilt, solange der Fall untersucht wird. Am Samstag erklärte Pincher von sich aus, dass er sich in ärztliche Behandlung begeben möchte. Manche, darunter die Labour-Opposition, verstehen nicht, wieso Pincher überhaupt noch Abgeordneter ist.
Rufe nach Rücktritt werden laut
Die Zukunft Boris Johnson als Regierungschef ist nun extrem gefährdet. Schon vor knapp zwei Wochen trat nach den Verlusten zweier Wahlkreise bei englischen parlamentarischen Nachwahlen der Co-Geschäftsführer der konservativen Partei Oliver Dowden zurück. Und vor einem Monat überstand Johnson ein parteiinternes Misstrauensvotum mit 211 gegen 148 Stimmen seiner eigenen Fraktion, die sich seiner entledigen wollten.
Johnson hatte nach den gescheiterten Nachwahlen – beide wurden ebenfalls wegen sexuellem Fehlverhalten konservativer Politiker ausgelöst – angegeben, dass er bis in die 2030er Jahre an der Macht bleiben wolle. Doch nun ist es nicht mal mehr sicher, ob Johnson überhaupt noch seine erste Legislaturperiode aussitzen kann.
Die Rufe nach Rücktritt aus den eigenen Reihen werden immer lauter, obwohl Johnson die leer gewordenen Ministerposten sofort mit verbündeten Abgeordneten neu besetzte. Bei ihnen handelt es um den ehemaligen Brexitminister unter Theresa May, Steve Barclay, bis dato für Johnsons Politbüro verantwortlich, der neuer Gesundheitsminister wird. Nadhim Zahawi wird neuer Finanzminister: Der im Irak geborene und im Alter von elf Jahren geflüchtete bisherige Erziehungsminister war zuvor verantwortlich für das Covid-Impfprogramm.
Doch viele glauben, dass Johnsons Tage gezählt sind. Ein Weg, sich Johnson zu entledigen, ist über ein neues internes Misstrauensvotum. Doch ein solches darf laut den bisherigen Regeln erst nach Verstreichen von zwölf Monaten wiederholt werden. Doch bei den Wahlen des Vorstands nächste Woche wollen Johnsons Gegner:innen versuchen, die Mehrheit im Vorstand zu besetzten, um so diese Regel aufzuheben und dann ein neues Misstrauensvotum möglich zu machen. Dann hoffen Johnsons Gegner:innen auf eine Mehrheit.
Kritik der Ex-Minister
Während Ex-Minister Javid von „fehlender Integrität und Kompetenz der Regierung“ in seinem Rücktrittsschreiben schrieb, betonte Sunak in seiner Begründung „fundamentale Differenzen“ in der Wirtschaftspolitik. „Die Öffentlichkeit erwartet, dass Regierungsgeschäfte richtig, kompetent und ernsthaft ausgetragen werden“, schrieb der Ex-Minister.
Eigentlich sollten Johnson und Sunak nächste Woche eine gemeinsame Erklärung zur Lage der Wirtschaft abgeben. Sunak sprach diesbezüglich von „schweren Wahrheiten“, die die Brit:innen durchaus in der Lage seien zu hören.
Alex Chalk, der bisher als Rechtsberater der Regierung agierte und ebenfalls zurückgetreten ist, bedauerte, dass er nicht länger in der Lage sei, „die Kultur und den von Johnson gewählten Weg zu verteidigen.“ In den letzten Wochen wurde insbesondere Johnsons Politik bezüglich des Nordirlandprotokolls von Hinterbänkler:innen und ehemaligen Torygrößen als Beispiel kritisiert, dass die britische Regierung sich nicht mehr an die Regeln internationalen Rechts halte.
Der Toryveteran Malcolm Rifkind, ein Gegner Johnsons, der den Sturz Margeret Thatchers als Mitglied ihres Kabinetts miterlebt hatte und der auch der Regierung John Majors diente, erzählte der BBC, dass Johnsons Vergehen schwerer seien als die Thatchers. „Thatchers Politik griff zwar nicht mehr, aber ihre Glaubwürdigkeit als Politikerin stand nie in Frage“, behauptete er. Er schätze, dass Johnsons Regierung in den nächsten Tagen oder Wochen stürzt – und das trotz der riesigen Mehrheit von 80 Sitzen bei der Parlamentswahl 2019.
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