Boris Johnsons langer Rücktritt: Nach ihm ein Trümmerfeld
Der Abgang des britischen Premierministers kommt spät. In seinen drei Jahren Amtszeit hat er viel Schaden angerichtet, auch abseits des Brexit.
A m Ende war kaum noch jemand übrig, um die zurückgetretenen Regierungsmitglieder zu ersetzen. Mehr als 50 von ihnen sprangen von Bord, binnen drei Tagen kamen und gingen drei Bildungsminister, der Schatzkanzler hielt es gerade mal zwei Tage aus. Ein Ex-Minister sagte nach dem Rücktritt des britischen Premierministers Boris Johnson gehässig, man habe „das fette Schweinchen endlich aufgespießt“. Aber: Man hat dafür viel zu lange gebraucht. Dieselben Regierungsmitglieder, die plötzlich ihre „Würde“ und „Integrität“ entdeckten, haben noch bis vor Kurzem Johnson verteidigt.
In Wahrheit geht es den „sinkenden Schiffen, die die Ratte verlassen“, wie es Labour-Chef Keir Starmer ausdrückte, um ihre Pfründe. Sie sind aufgeschreckt: Vielen von ihnen hätte bei den nächsten Wahlen der Verlust ihres lukrativen Abgeordnetensitzes gedroht, wäre Johnson im Amt geblieben. Der warf seinen abtrünnigen Parteikollegen eine „Herdenmentalität“ vor: Sie ignorierten das überwältigende Mandat, das er 2019 mit dem höchsten Stimmanteil seit 45 Jahren eingefahren hatte. Grund dafür war der Brexit. Den hatte Johnson nur aus Opportunismus propagiert. Zunächst hatte er sich dagegen ausgesprochen, aber rechtzeitig erkannt, dass es seinen Ambitionen förderlich sein würde, sich an die Spitze der „Leave“-Kampagne zu drängen.
Das funktionierte zwar, doch nach seiner Wahl zum Premier stellte sich heraus, dass er kaum andere politische Visionen hatte. Sein Ex-Berater Dominic Cummings bezeichnete ihn als „außer Kontrolle geratenen Einkaufswagen“, der bei vielen Themen, nicht zuletzt bei der Corona-Politik, ständig seine Meinung änderte.
Johnson hinterlässt einen Trümmerhaufen. Seine Regierung hat die Menschenrechte durch ein neues Gesetz verwässert, das es erlaubt, Flüchtlinge nach Ruanda auszulagern. Sie will die Unabhängigkeit der Wahlrechtskommission abschaffen und neue Hürden für Wähler:innen aufbauen, die bis zu zwei Millionen vom Wahlrecht ausschließen würden, – was vor allem junge und ärmere Leute beträfe. Diese schäbigen Projekte werden Johnson überdauern.
Selbst sein Paradeprojekt, der Brexit, ist noch nicht in trockenen Tüchern. Auch bei diesem Thema hat Johnson einen Eiertanz vollführt und seine ehemaligen Verbündeten, die nordirischen Unionisten, im Regen stehen lassen, um seine Haut zu retten. In seiner Rücktrittsrede schwor Johnson, seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger so gut wie möglich zu unterstützen. In Anbetracht seiner bisherigen Loyalität kommt das einer Drohung gleich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht