Rechtssystem in den USA: „Ich hatte solche Angst“
Eine schwangere, schwarze Frau ist wegen des Ziehens einer Waffe zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Dabei handelte sie offenbar aus Notwehr.
Eine Straße in Detroit: Zwei Frauen geraten in einen Streit. Die eine, Siwatu-Salama Ra, fordert die andere auf, das Grundstück zu verlassen. Die steigt tatsächlich in ihr Auto, doch statt nach Hause zu fahren, rammt sie das Auto von Ra, in dem deren zweijährige Tochter spielt.
Verängstigt holt Ra ihr Kind aus dem Auto, bringt es in Sicherheit und verlangt abermals von der Fahrerin, zu verschwinden. Als diese jedoch ein weiteres Mal das Auto positioniert und auch Ras Mutter ins Visier nimmt, zieht Ra eine Pistole. Sie hat einen Waffenschein, die Pistole ist registriert und nicht geladen. Endlich fährt die Angreiferin davon.
Diese Situation, die erst vor kurzem mediale Aufmerksamkeit erregte, ist ein klares Beispiel für Selbstverteidigung gemäß des „Stand Your Ground“-Gesetzes, das es in manchen Staaten der USA erlaubt, Waffen gegen AngreiferInnen auf dem eigenen Grundstück einzusetzen. Doch die Geschichte verläuft anders als bei vielen anderen WaffenbesitzerInnen.
Ra ist eine afroamerikanische Aktivistin und Mutter. In ihrem Fall steht die Aussage von ihr, ihrer Mutter und ihrer Nichte gegen die der anderen Frau, Channell Harvey, und deren Tochter. Harvey geht zuerst zur Polizei und verschweigt das kleine Detail, dass sie ihr Auto als Waffe einsetzte.
Angst spielt eine große Rolle
Als Ra zwei Stunden später selbst Anzeige erstattet, ist sie bei der Polizei bereits als Täterin gebrandmarkt. Drei Wochen später steht ein Swat-Team vor ihrer Haustür, um sie zu verhaften.
Ihre Version der Geschichte wird nicht ernstgenommen. Die Fotos, die Harvey mit ihrem Handy von Ra mit der Waffe in der Hand aufgenommen hat, haben die Polizei überzeugt.
Und auch die Jury. Vor wenigen Monaten wurde die 26-jährige vor Gericht zu zwei Jahren Haft verurteilt – und das obwohl sie hochschwanger ist. Sie wird ihren Sohn im Gefängnis zur Welt bringen müssen.
Im Prozess spielte Furcht eine große Rolle. „Der Staatsanwalt überzeugte die Jury und den Richter, dass ich keine Angst hatte und das ist nicht wahr“, sagte Ra am Ende der Verhandlung, „Ich hatte solche Angst, vor allem wegen meines Kleinkinds und meiner Mutter. Ich glaube nicht, dass sie sich eine ängstliche, schwarze Frau vorstellen konnten – nur eine wütende.“
Kein Einzelfall
Siwatu-Salama Ra ist nicht die einzige schwarze Frau, für die das „Stand Your Ground“-Gesetz nicht zu gelten scheint: Derzeit läuft ein Verfahren gegen Marissa Alexander, die einen einzigen Warnschuss in Anwesenheit ihres gewalttätigen Ehemanns und dessen Kindern abgab – die Staatsanwaltschaft fordert 60 Jahre.
Für beide Frauen regt sich Protest unter feministischen und zivilgesellschaftlichen AktivistInnen. „Black Lives Matter“-Mitbegründerin Patrisse Khan-Cullors ist eine der prominentesten UnterstützerInnen. Sie kritisiert in einem Artikel, dass Women of Color die am schnellsten wachsende Gruppe in US-amerikanischen Gefängnissen stellten.
Für Khan-Cullors ist Ras Fall beispielhaft für die Dynamiken rassistischer Institutionen und die Widersprüchlichkeit des rechten Lagers in den USA: „Wir können nicht erwarten, dass Waffen-Lobbyisten eine schwarze Frau auf Grundlage des ‚Stand Your Ground‘-Gesetzes verteidigen. Und wir wissen, das Lebensrechtler nie einen Finger rühren würden, um ein ungeborenes schwarzes Kind vor dem Gefängnis zu bewahren“.
Statt auf Hilfe zu hoffen, müsse jeder selbst seinen Teil tun, um in dem von Heuchelei geprägten Justizsystem für Gerechtigkeit zu sorgen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt