Rechtsextreme und Klimakrise: Wie schläft wohl Volker Wissing?
Durchschlafen ist zurzeit keine Option, der Zustand der Welt lässt keine Ruhe. Zum Glück gibt es ein altes Mittel gegen Müdigkeit.
V erzeihen Sie meine Augenringe – also die meines lyrischen Ichs natürlich, hüstel hüstel. Ich habe nicht geschlafen. Nicht nur die letzte Nacht, eigentlich die ganze Woche nicht. Leider lag’s nicht an meinem Rock’n’Roll-Lebenswandel, an kreativ durchgearbeiteten oder durchtanzten Tagen und Nächten, sondern am Zustand der Welt. Klar, nichts daran ist neu, aber manchmal hämmern die Tatsachen besonders dicht, besonders hart aufeinander ins Hirn.
Immer im Sommer zum Beispiel, den fand ich als Kind schon bedrohlich. Eigentlich immer schon zu heiß und zu hell. Und no shit, schon in den 80ern war das Phänomen Klimakatastrophe bekannt! In einer präpubertären Phase fuhr ich selbstgedichtete Hassbotschaften an Autofahrer auf meinem Fahrrad spazieren. Nun ja. Die Erde erhitzt sich seitdem nur immer schneller. Vielleicht zögere ich deshalb, mich selbst auf die Straße zu kleben. Nicht aus Angst vor dem Zorn der Autofahrer, nicht aus Angst um mich selbst, sondern aus Angst vor der völligen Vergeblichkeit.
In der Familienchatgruppe wird diese Woche viel diskutiert: Nutzt es, weite Teile der Bevölkerung zu verunsichern (Wut ist doch, seien wir ehrlich, oft nur Folge von Unsicherheit), oder schadet es der Sache? Lieber den Weg des Widerstands oder den durch die Institutionen gehen? Druck von innen oder von außen aufbauen? Fakt ist: Vergeblicher arbeiten als die FDP-, Verzeihung SPD-geführte Bundesregierung (die homöopathische Grünen-Dosis vernachlässige ich hier mal) kann man allerdings auch kaum. Auch eine Sache, über die ich nachts nachdenke: Wie schläft eigentlich Volker Wissing?
Mein Freund hingegen schläft sehr gut (wenn ich ihn lasse). Er hat eine Fähigkeit, die viele in jahrelanger Meditation üben und doch nicht erreichen. Er sorgt sich nur über Sachen, die er tatsächlich und konkret ändern kann. Allem anderen steht er mit unglaublicher Gelassenheit gegenüber. Was nicht heißt, dass ihm die Frauenverächter mit Feuerfetisch von Rammstein und ihre Superzellen an Unterstützern oder eiskalt auf dem Mittelmeer ignorierte Flüchtende gleichgültig wären, im Gegenteil. Für seine Patienten ist seine Nüchternheit auf jeden Fall besser. Sie lässt ihn handeln. Ich würde wahrscheinlich bei jedem Herzstillstand bloß vor Mitgefühl weinen, statt zu reanimieren.
Podium für Chrupalla
Und eigentlich war diese teilnehmende Nüchternheit ja auch mal die Jobbeschreibung im Journalismus. Angst, Wut, Mitleid (egal ob berechtigt oder nicht) verzerren ja nicht nur den Blick, schmelzen den Verstand und machen phlegmatisch oder panisch – sie ändern auch erstmal gar nichts.
Also Memo an mich für die kommenden heißen Wochen: Schön locker durch die Hose atmen. Vielleicht mal zusammen mit Mann und Kind – beide friedlich schnarchend – ein Nickerchen machen. Das klappt aber auch nur, wenn nicht wieder irgendwelchen AfD-Politikern – wie diese Woche Tino Chrupalla bei Maischberger – ein Wahnsinns-Podium für ihre Liebe zu Kriegsverbrechern wie Putin und ihren allgemeinen Menschenhass geboten wird. Oder noch ein paar AfD-Wähler die Shoah mit einem Schulterzucken abtun. Dann nämlich liegt doch mal mein Freund wach – aus Wut darüber, dass sich im versöhnungsseligen Deutschland so wenig geändert hat, seit seine Großeltern fliehen mussten.
Sehr wahrscheinlich also werden wir sehr viel gemeinsam wach liegen. Ich werde noch ein paar Nächte darüber nachdenken, was sich Menschen von der AfD versprechen (wenn sie mal ihre Impulse aus- und ihren Verstand anschalten), ob Sandra Maischberger aus professioneller Nüchternheit oder Schockstarre nicht wirklich auf Chrupallas Ausfall in Bezug auf eine Kapitulation der Ukraine (er konnte sich einen Vergleich mit 1945 nicht verkneifen) reagiert hat, warum sie ihn überhaupt eingeladen hat und wo so ganz allgemein die gesunde Grenze zwischen Nüchternheit und Gefühl verläuft.
Zum Glück kenne ich einen Trick, der gegen Müdigkeit und überschäumende Gefühle gleichermaßen wirkt: kalt duschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren