Rahel Jaeggi zu Philosophie und Wandel: „Eine Idee von Emanzipation“

Oft bleiben Proteste in der Defensive, sagt Rahel Jaeggi. Die Kämpfe um Vergesellschaftung haben das Potential zu verbinden und nach vorne zu weisen.

Menschen fahren in Kanus auf dem Berliner Landwehrkanal. An der Kanalwand ist ein Graffiti mit den Worten "DW ENTEIGNEN!"

Welch schöner Tag auf dem Landwehrkanal mit der Perspektive, Deutsche Wohnen & Co. zu enteignen

taz: Frau Jaeggi, viele gesellschaftliche Probleme schreien uns heutzutage förmlich an – ob Klima­krise, Gentrifizierung oder Rassismus. Gegen vieles wird regelmäßig protestiert. Warum bleibt der große Wandel bisher aus?

Rahel Jaeggi: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Eine Antwort wäre: Was fehlt, sind die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Missständen und Notlagen. Und was fehlt, ist vielleicht auch eine positive Idee nach vorne, eine Idee von Emanzipation gewissermaßen.

Eine Idee nach vorne?

Es gibt alle möglichen Abwehrkämpfe oder Kämpfe um Sichtbarkeit im Bezug auf Diskriminierungen. Jenseits der Abschaffung dieser Übel liegen darin aber auch Wünsche, die Gesellschaft anders zu gestalten. Mit der Debatte und Bewegung um Vergesellschaftung, die ja sehr prominent von Deutsche Wohnen und Co. enteignen! angestoßen wurde, aber darauf nicht begrenzt ist, habe ich jedoch den Eindruck, dass ein Aus-der-Defensive-Kommen ermöglicht wird.

Warum gerade damit?

Rahel Jaeggi ist seit 2009 Professorin für Sozialphilosophie und Politische Philosophie an der HU Berlin. Zudem ist sie Direktorin des Centre for Social Critique Berlin und organisiert Diskussionsformate zwischen kritischer Theorie, Politik und Zivilgesellschaft – unter anderem die Walter-Benjamin-Lectures.

Das Vergesellschaftungsthema ist eines, dass das Problem ziemlich an der Wurzel packt, weil es die großen Institutionen und sozialen Strukturen angeht, die unser Leben bestimmen. Und die aktuelle Vergesellschaftungspolitik hat den übergreifenden Charakter, Gesellschaft für alle verändern zu wollen. Das sehe ich besonders im Demokratisierungsaspekt, also darin, wichtige Elemente der sozialen Infrastruktur in demokratisches Gemeinwesen bringen zu wollen.

Das sind ja recht praktische, politische Debatten und Kämpfe. Sie sind Philosophin. Was kann Philosophie dazu beitragen?

Eigentum ist auch ein philosophischer Begriff, nicht nur ein juristischer. Wann und warum ist Eigentum legitim? Welche Wirkungen hat es, wenn bestimmte Dinge zu Privateigentum gemacht werden? Das sind Fragen, die haben auch einen gewissen philosophischen Tiefgang. Nicht nur, was Wohnen angeht. Die Debatten um Vergesellschaftung von Energie oder die Frage zu Privatisierung von Krankenhäusern gewinnen ebenfalls an Fahrt. In allen möglichen Dingen, die zur öffentlichen Infrastruktur gehören, gibt es auch philosophischen Klärungsbedarf.

Sie sagten, dass auch die Zusammenhänge zwischen den Missständen fehlen. Was meinen Sie damit?

Für viele Bewegungen sind gerade die Zusammenhänge fraglich. Welche tieferliegenden Strukturen gibt es, die Rassismus, Sexismus und Kapitalismus verbinden? Das wirft auch die Frage nach der Vorstellung von gesellschaftlichem Wandel auf. Also ob man jetzt denkt: „Wenn wir viele werden und es doll genug wollen, dann wird das schon.“ Oder ob man die gesellschaftlichen Hintergründe versteht. Auch hier können sich Handlungsoptionen durch die philosophische Reflexion dieser Fragen verändern.

Das heißt?

Haben wir zum Beispiel ein individualistisches Verständnis von Rassismus, führt das auch zu einer individualisierenden Gegenstrategie, zum Beispiel zu Anti-Vorurteils-Trainings in Unternehmen. Verstehen wir Rassismus als strukturelles Problem, ergeben sich andere Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten – zum Beispiel die Black-Lives-Matter-Proteste der vergangenen Jahre. Ein besseres Verständnis von Ungerechtigkeiten kann also dazu führen, dass vereinzelte Akteure sich als kollektive Akteure wahrnehmen. Eben weil sie sehen, wie ihre unterschiedliche Betroffenheit miteinander verbunden ist.

Und die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Kämpfen?

Der Chair Jedes Jahr lädt das Centre for Humanities and Social Critique der Humboldt-Universität (HU) ei­ne*n re­nom­mier­te*n zeit­ge­nös­si­sche*n kri­ti­sche*n Theo­re­ti­ke­r*in im Rahmen des Walter-Benjamin-Chairs nach Berlin ein. Acht Wochen ergründet diese Person gemeinsam mit anderen Phi­lo­so­ph*in­nen einen philosophischen Problemzusammenhang. Benannt ist der Chair nach dem Berliner Walter Benjamin, der unter anderem mit Theodor W. Adorno, Erich Fromm und Max Horkheimer die Kritische Theorie Frankfurter Schule begründete.

Die Lectures Das im Chair erarbeitete Thema wird in einer dreiteiligen Vorlesungsreihe einer breiteren Öffentlichkeit nähergebracht und diskutiert. In diesem Jahr ist Sally Haslanger zu Gast, sie arbeitet am Massachusetts Institute of Technology zu sozialem Wandel und kritischer Gesellschaftstheorie. Thema der Lectures ist „Agents of Possibility – The Complexity of Social Change“. Die Lectures auf Englisch sind vom 14. bis 16. Juni, jeweils von 18 bis 20 Uhr, in der Staatsbibliothek zu Berlin (Potsdamer Str. 33). Der Eintritt ist frei. Weitere Infos gibt es auf der Website des Centres for Social Critique. (taz)

Es ist wird auch in der Philosophie viel darüber debattiert, wie diese zu verstehen und zusammenzudenken sind. Nancy Fraser, die letztes Jahr den Benjamin Chair innehatte, hat ein Verständnis, dass sich sehr am Kapitalismus als Bindeglied orientiert. Sally Haslanger, die diesjährige Rednerin, hat ein offeneres Verständnis.

Schließen sich wegen dieser Unklarheit oft zu wenige Menschen bestehenden Protesten an?

Das ist gar nicht so leicht. Viele Menschen stecken in ihrem alltäglichen Leben in so vielen Zwängen, sind so individualisiert und haben so wenig Handlungsspielraum auch nur in ihren unmittelbarsten Lebensumständen. Andererseits gab es in den letzten Jahren gerade auch solidarisches gemeinsames Handeln in Kontexten wie Plattform-Ökonomien, in denen das eigentlich schwer denkbar ist – wie beispielsweise die Gorilla-Streiks. Mit großer Besorgnis muss man hingegen die Repressionswelle betrachten, die selbst solche Gruppierungen wie die Letzte Generation, aber auch An­ti­fa­schis­t*in­nen gerade überrollt. Die Anwendung des Paragrafen 129 ist ja klarerweise eine Maßnahme zur Abschreckung vor allem auch der möglichen Sympathisanten.

Und wie läuft der Austausch zwischen Bewegung und Philosophie beziehungsweise kritischer Theorie, wie Sie sie praktizieren?

Sehr vieles wird bereits von den Initiativen getan, um aufzuklären und Dinge auseinanderzuhalten. Also warum reden wir über Enteignen, warum über Vergesellschaftung? Ich denke, man sollte es so verstehen, dass bestimmte Diskussionen kritischer Theorie im Grunde schon in solchen Bewegungen stecken und wirken. Umgekehrt sollte die Philosophie auch immer offen sein für neue Themen und Dynamiken in den Bewegungen und diese reflektieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.