Rechtsextreme „Graue Wölfe“: Hass aus 3.000 Kilometern
Der kurdischstämmige Politiker Civan Akbulut erhält Morddrohungen im Internet. Er ist nur eines von vielen Opfern. Taz-Recherchen führen in die Türkei.
E s ist ein kühler Freitagabend im August, als Civan Akbulut zum ersten Mal auch in der analogen Welt bedroht wird. Akbulut, 21 Jahre alt, fährt in einem Skoda des Deutschen Roten Kreuzes durch Essen. Er macht dort ein Freiwilliges Soziales Jahr. Die letzten Stunden hat er Blutkonserven von Labor zu Labor transportiert. Nun ist seine Schicht zu Ende, Akbulut ist auf dem Weg zurück in die Zentrale.
Vor einer roten Ampel kommt er zum Stehen, neben ihm hält ein weißer Sportwagen. Der Mann am Steuer schaut ihn direkt an. Akbulut lässt das Fenster herunter, fragt, ob er ihm helfen könne. Der Mann nennt ihn einen Hurensohn, einen Wichser und sagt: „Ich habe dich erkannt.“ Die Ampel schaltet auf Grün, Akbulut fährt los, der Sportwagen folgt. Immer wieder versucht der Unbekannte, Akbulut abzudrängen, zum Halten zu zwingen.
Erst als er in die Einfahrt der DRK-Zentrale einbiegt und der Sportwagen weiterfährt, fühlt er sich in Sicherheit. So erzählt es Akbulut Anfang Oktober im Vereinsheim des Demokratischen Gesellschaftszentrums der Kurden in Essen. Akbulut weiß nicht, wer der Mann war oder was er wollte. Er weiß zu diesem Zeitpunkt auch nicht, wer ihm immer wieder Morddrohungen auf Instagram schickt: Bilder von Pistolen, Maschinengewehren und Leichen.
Civan Akbulut ist deutsch-kurdischer Aktivist und Politiker für die Linke in Essen. Seit September 2020 sitzt er im Integrationsrat, zur nächsten Kommunalwahl möchte er für den Stadtrat kandidieren. Er ist nicht das einzige Opfer jenes Droh-Accounts auf Instagram.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auch andere linke Politiker:innen und Aktivist:innen wie Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linken in der Hamburger Bürgerschaft, Sarya Atac, Mitglied in der kommunalen Ausländervertretung Frankfurt am Main, und Kerem Schamberger, Aktivist aus München und Linken-Kandidat bei der letzten Bundestagswahl, erhielten Drohungen von demselben Absender.
„Idealisten“ nennen sich die Grauen Wölfe
Wer steckt dahinter? Ein Einzeltäter oder ein Netzwerk von sogenannten Trollen? Also Leuten, die sich online organisieren und systematisch Personen bedrohen, deren Weltbild nicht ihrem eigenen entspricht? Sucht man nach Antworten, stößt man auf Konflikte, die weit in die türkische Geschichte zurückreichen und immer wieder neu aufleben. Und man begegnet Strukturen, denen deutsche Behörden nicht gewachsen zu sein scheinen.
Es ist Mitte Juni 2021, als Akbulut die erste Drohung auf Instagram bekommt. Ein Bild von zwei Gewehren, kommentiert auf Türkisch mit „Komm, ich warte auf dich“ und den Orten Erbil, Irak und Syrien sowie ein Video mit dem Graffito „Es leben die Idealistenvereine“. „Idealisten“, so nennt sich die ultranationalistische türkische Bewegung, die sogenannten Grauen Wölfe. Ihre Anhänger:innen haben es auf vermeintliche Staatsfeinde abgesehen, darunter Unterstützer:innen der kurdischen Bewegung – wie Civan Akbulut.
Ende Juli folgt die zweite Drohung, wieder auf Instagram. Dieses Mal sind es vier Fotos von einem anderen Account. Darunter eins von einer Handfeuerwaffe, eins von einem türkischen Reisepass und zwei von Frauenkörpern, die auf einem Fliesenboden in einer Blutlache liegen. Die Screenshots liegen der taz vor.
Der Account des Absenders verschwindet immer wieder und taucht dann mit leicht verändertem Namen erneut auf. Mal heißt er „Kod Adım Yeşil“ und hat das Emblem des türkischen Verfassungsgerichts als Profilbild, dann kommen die Drohungen von einem Account mit dem Namen „jitem_turkey_tem2“.
Wörter, die in den Accountnamen immer wieder auftauchen, sind „Jitem“ und „Kod Adım Yeşil“. „Jitem“ ist der Name einer informellen paramilitärischen Untergrundorganisation. Ihr werden eine Reihe von politischen Morden in den 1990er Jahren nachgesagt, als der türkisch-kurdische Konflikt auf seinem Höhepunkt war.
„Kod Adım Yeşil“ heißt auf Deutsch: „Mein Codename ist Grün“. „Grün“ lautete der Deckname des Agenten Mahmut Yıldırım, um den in der Türkei viele Mythen kreisen. Das Profilbild dieses Accounts zeigt ein Bild von Yıldırım. Er wird für mehrere Morde – ebenfalls in den 1990er Jahren – verantwortlich gemacht, die er mutmaßlich im Auftrag türkischer Geheimdienste ausführte. Er soll auch damit beauftragt gewesen sein, Abdullah Öcalan, den Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, zu töten. 1996 tauchte Yıldırım ab.
Civan Akbulut ist nicht Cem Özdemir
Der Lokalpolitiker Akbulut kennt die Mythen über Yıldırım aka Yeşil. Hinter den Drohnachrichten vermutet er einen türkischen Nationalisten in Deutschland, der sich an seinen politischen Aktivitäten stößt, vielleicht sogar jemanden aus seinem unmittelbaren Umfeld. Denn Civan Akbulut ist kein bekannter Name, er ist nicht Cem Özdemir, sondern ein junger Mann, der in Essen gerade in die Lokalpolitik einsteigt.
Vielleicht sind die Drohungen aber auch das Resultat organisierten Handelns. Schließlich hatte er die erste Drohung erhalten, nachdem er auf seinem Blog ein Solidaritätsschreiben veröffentlicht hatte. Darin unterstützte er Cansu Özdemir, die im Juni mit einer Delegation in die kurdischen Gebiete im Nordirak fliegen wollte, um angesichts der Eskalation Unterstützung vor Ort zu leisten.
Am Düsseldorfer Flughafen war sie jedoch von der Bundespolizei festgesetzt und an der Ausreise gehindert worden. Der Grund: „In der Mitteilung stand, dass die Delegation vorhabe, als ‚menschliche Schutzschilde der PKK‘ zu fungieren, und dass die Reise den deutsch-türkischen Beziehungen schaden würde“, sagte Özdemir später der taz über ein Schreiben der Bundespolizei.
Im Juni und Juli 2021, jeweils kurz nach Erhalt der Drohnachrichten, geht Akbulut zur Polizei und erstattet Anzeige gegen unbekannt. Doch am 18. Oktober stellt die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein. „Weitere Nachforschungen versprechen zurzeit keinen Erfolg“, heißt es in dem Schreiben. Akbulut sagt, am Telefon habe ihm der für seinen Fall zuständige Staatsschützer erklärt, sie gingen von einem Netzwerk außerhalb der EU aus und der türkische Staat werde ohnehin nicht kooperieren.
Civan Akbulut ist eines von acht Kindern kurdischer Eltern, die 1991 aus der Südosttürkei nach Deutschland auswanderten. Akbulut hat als Erster Abitur gemacht, Notendurchschnitt 1,2. Bald möchte er Medizin studieren. Ein wenig Stolz klingt aus seiner Stimme, als er die Reporter:innen dazu einlädt, sich im kurdischen Vereinsheim umzuschauen. An den Wänden hängen etliche Porträts gefallener Kämpfer:innen, Fahnen und Symbole der kurdischen Bewegung.
Wenn Akbulut über Politik spricht, verhärten sich seine Gesichtszüge. Dann spricht er lauter, tippt mit dem Zeigefinger energisch auf den Tisch. Als der IS im September 2014 die kurdische Stadt Kobanê in Syrien angriff, habe er sich politisiert. Da war er 14 Jahre alt. Als Jugendlicher fängt er an, politische Texte zu verfassen und auf einem Online-Blog zu veröffentlichen.
Erst benutzt er ein Pseudonym, bis er im September 2020 als Teil der Linken für den Essener Integrationsrat kandidiert. „Da dachte ich mir, okay, wenn ich jetzt gewählt werde, dann let’s go.“ Heute spricht er auf prokurdischen Demos und organisiert Soli-Aktionen für seine Community.
Auch ein deutsches Problem
Oft heißt es hierzulande, die Menschen würden den Konflikt aus der Türkei und Kurdistan nach Deutschland importieren. Akbulut sagt: „Solange Menschen hier in Deutschland bedroht werden, weil sie kurdisch sind, ist das kein politisches Problem aus der Türkei, sondern eines in Deutschland.“
Seine These unterstützen auch die Arbeiten einiger Wissenschaftler, wie zum Beispiel die des Politik- und Sozialwissenschaftlers Kemal Bozay. In seiner Dissertation analysiert Bozay, wie deutsch-türkische Jugendliche der zweiten und dritten Generation im Kontext von Globalisierung und Migration reethnisiert und renationalisiert werden. Dabei handelt es sich vor allem um Anhänger:innen der Grauen Wölfe, über die im November 2020 eine Verbotsdebatte im Bundestag entbrannte.
Die Ideologie dieser ultranationalistischen und rassistischen Bewegung reicht bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Im Zentrum der Grauen Wölfe stand einst eine vermeintliche Einheit aller „Turkvölker“. Ihr Ziel: Der Zusammenschluss dieser „Völker“ zu einem türkischen Großreich. Von den 1950er bis in die 1980er Jahre erlangte die panturkistische Vision wachsende Beliebtheit unter Rechtsextremist:innen in der Türkei.
Kemal Bozay, Politikwissenschaftler
Die Folge waren eine Serie von Gewalttaten und Morden, vor allem an Kommunist:innen und Kurd:innen, die neben Jüd:innen, Christ:innen und Armenier:innen als größtes Feindbild gelten.
Der Politikwissenschaftler Kemal Bozay sagt, die antikurdische Stimmung in der Türkei, die sich durch die Koalition von Erdoğans AKP und der rechtsextremen MHP verschärft habe, strahle auch nach Deutschland in die migrantischen Communitys aus. „Dort entstehen ethnische Nischen, in denen gerade jungen Leuten Identitätsangebote gemacht werden“, erklärt Bozay am Telefon.
Die sozialen Medien hätten dabei ein großes Mobilisierungspotenzial. In Deutschland mache man immer wieder den Fehler, sich „auf den einen Rechtsextremismus“ zu konzentrieren, und vernachlässige dabei den migrantischen.
Nach und nach gehen immer mehr Opfer via Twitter an die Öffentlichkeit, die Civan Akbuluts Schicksal teilen. Unter ihnen der Aktivist und Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger aus München. Auch er erhält Drohnachrichten von demselben Absender wie Akbulut. Schamberger hat sich in den vergangenen Jahren in den sozialen Medien einen Namen als Beobachter und Kommentator der Ereignisse in den kurdischen Gebieten und der Türkei gemacht.
Auch er ist politisch eher auf lokaler Ebene aktiv. Und auch in seinem Fall seien die Ermittlungen eingestellt worden, sagt er der taz. Akbulut, Schamberger, Özdemir und weitere Opfer solidarisieren und vernetzen sich, und sie stellen eigene Recherchen zu dem Täter an.
Täter lebt Tausende Kilometer entfernt
In einem anderen Fall unterstützt die Abteilung Cybercrime des Bundeskriminalamts (BKA) die Polizei bei den Ermittlungen. Im Juni kommen die Beamt:innen zu einem überraschenden Ergebnis. Eine Überprüfung der IP-Adresse des Absenders der Drohnachrichten ergibt: Die Nachrichten wurden von der zentralanatolischen Stadt Kayseri versendet. Ein entsprechendes Schreiben der Behörde liegt der taz vor.
Die Gruppe um Akbulut und Schamberger erfährt von dem Ermittlungsergebnis. Sie wissen nun zumindest, dass sich der Täter vermutlich dauerhaft in der Türkei aufhält – und nicht in Deutschland.
Am 24. November erhält Kerem Schamberger die Drohungen plötzlich nicht mehr von einem anonymen Account. Die verbalen Angriffe, „Kerem, früher oder später wirst du in das Flugzeug steigen“ oder „Es gibt kein Verstecken mehr“, samt Fotos bekommt er jetzt von einem Account mit dem Namen „teknotell_kayseri“ geschickt. Eine Recherche von Schamberger ergibt, dass „Teknotell“ ein Handyladen im Bezirk Kocasinan in Kayseri ist. Der Laden befindet sich in der Nähe des Bezirks Talas, den das BKA als Herkunftsort der Drohnachrichten identifizieren konnte.
Schamberger dokumentiert die Drohungen und ein Foto, das er auf dem Profil des Täters findet. Darauf ist ein Mann mit kahlem Kopf und grauem Sweatshirt zu sehen, der vor einer in die Wand eingearbeiteten dreidimensionalen Türkeifahne an einem Schreibtisch sitzt und in die Kamera grinst. In der Bildunterschrift gratuliert der Mann zwei Parlamentsabgeordneten der rechtsextremen MHP. „Selahattin Demirtaş ist ein Terrorist“ steht außerdem unter dem Foto. Gemeint ist der ehemalige Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP, der seit 2016 in Haft sitzt.
Warum agiert der bisher anonyme Absender nun von einem identifizierbaren geschäftlichen Account, mit Foto? Hat er sich ungewollt enttarnt, weil er vergessen hat, die Instagram-Accounts zu wechseln? Oder tat er es bewusst, weil er davon überzeugt ist, keine Konsequenzen fürchten zu müssen?
Die taz konnte den Absender identifizieren. Der Mann heißt Tayfun K.* und betreibt den kleinen Handyladen auf dem Sivas-Boulevard, einer mehrspurigen Hauptstraße im Zentrum Kayseris. Eine Meldeadresse von Tayfun K., die die taz recherchiert hat, befindet sich in Talas, jenem Stadtteil von Kayseri, auf den das BKA bei der Überprüfung der IP-Adresse gestoßen ist.
Mithilfe von Tayfun K.s Handynummer, die die taz ebenfalls herausgefunden hat, kann man seine Profilbilder auf den Messengern Whatsapp und Telegram einsehen. Sie stimmen mit dem Foto des Mannes auf dem Teknotell-Account überein. Sein Name taucht auf der offiziellen Website des Mobilfunkanbieters Vodafone auf, wo er als Dienstleister gelistet wird. Auf der Plattform LinkedIn gibt er an, Elektrotechniker zu sein.
Das Telefonat mit Tayfun K.
Die taz ruft Tayfun K. an, konfrontiert ihn mit den Drohnachrichten von den verschiedenen Accounts und fragt, ob er allein handelt oder mit anderen zusammen. Er räumt ohne Umschweife ein, der Absender der Nachrichten zu sein. „Von Geburt an“ sei er ein „Idealist“, also ein Grauer Wolf, gehöre jedoch keiner politischen Partei an.
Tayfun K. redet viel und schnell, er wird wütend, wenn er über die „falschen Türken“ in Deutschland spricht, die hierher geflüchtet seien, um mit ihrem vermeintlich antitürkischen Aktivismus seinem Land aus der Entfernung zu schaden. Er sehe es als seine Pflicht an, dem entgegenzuwirken – mit Morddrohungen auf Instagram.
Auf die Frage, wie Tayfun K. seine Opfer auswählt und ob er mit anderen zusammenarbeitet, reagiert er ausweichend. Zum Teil suche er die Empfänger seiner Drohnachrichten selbst aus. Die taz findet heraus, dass seine Telefonnummer mit einem Facebook-Account namens „Ramazan Kılıç“ verknüpft ist. Der Name ist ein Allerweltsname in der Türkei, vermutlich ein Pseudonym.
Der Account hat nur ein Profilfoto und erweckt insgesamt den Eindruck eines Fake Accounts. Auffällig ist: „Ramazan Kılıç“ hat fast ausschließlich Seiten gelikt, die entweder politisch links verortet sind oder der kurdischen Bewegung nahestehen. Auch welche aus Deutschland.
Nutzt Tayfun K. das gefälschte Facebook-Profil, um potenzielle Opfer für seine Drohnachrichten zu finden? Ein Indiz dafür ist, dass Kılıç Facebook-Seiten gelikt hat, die auch Kerem Schamberger und Civan Akbulut gefallen. Eine der Seiten hat Posts von Schamberger geteilt.
Auf den Account angesprochen, bestreitet Tayfun K., ihn zu betreiben. Bei der Beantwortung der Frage, ob er Kompliz:innen habe, bleibt er vage. Er pflege Kontakte zu den „Grauen Wölfen“ in Deutschland, auch zum islamischen Dachverband der Moscheen, Ditib. Genauer wird er nicht, doch er bemüht sich darum, dass man glaubt, er sei Teil eines Netzwerks.
Ist Tayfun K. „nur“ ein virtueller Troll, dessen Aktionen sich auf das Internet beschränken? Oder folgen aus seinen Online-Drohungen gewollt oder ungewollt tätliche Angriffe, wie auf den Lokalpolitiker Civan Akbulut oder den Journalisten und taz-Autor Erk Acarer? Im Juli 2021 wurde Acarer im Eingang seines Berliner Wohnhauses von zwei Männern zusammengeschlagen, von mutmaßlichen Anhängern der Grauen Wölfe.
Die Ermittlungen laufen noch. Nicht auszuschließen ist, dass die Täter ohne direkten Auftrag handelten und sich von Postings, wie jenen von Tayfun K., dazu ermutigt fühlten.
Auch Tayfun K. macht deutlich, dass er bald über die Drohungen hinaus zur Tat schreiten könnte. Obwohl K., wie er sagt, schon „seit Jahren kämpfe“, sei er bisher weder von deutschen noch von türkischen Behörden belangt worden. Er ist überzeugt davon, dass er von der gegenwärtigen Regierung in der Türkei nichts zu befürchten hat.
Er sagt, auch die deutsche Regierung könne seine Opfer nicht beschützen. Dass er sich nicht einmal mehr hinter Fake-Profilen versteckt, sondern offen agiert, zeigt noch mal mehr, wie sicher er sich fühlt.
Auch Politiker:innen in der Türkei betroffen
Tayfun K. beschränkt sich bei seinen Morddrohungen nicht auf Deutschland. Mit wechselnden anonymen Accounts hat er auch Politiker:innen und Journalist:innen in der Türkei bedroht. Die ersten Drohungen, die der taz vorliegen, gehen auf den März 2020 zurück. Ein Account von Tayfun K. verschickte damals den Satz „Der Tod wird dich finden“ gemeinsam mit Fotos von einer Handfeuerwaffe und einem türkischen Pass.
Die Empfänger:innen waren Parlamentsabgeordnete der prokurdischen HDP, die von Teilen der Erdoğan-Regierung schon lange als „Terroristen“ denunziert werden.
Auch der kurdischstämmige Journalist Hayri Demir hat im Oktober 2020 Drohungen erhalten und Anzeige erstattet. Die Drohungen kamen von Tayfun K.s Accounts. Ein kurzes Schreiben, das Demir von der Staatsanwaltschaft im April 2021 erhalten hat, zeigt, wie die staatlichen Behörden in der Türkei mit dem Fall umgehen.
Die Staatsanwaltschaft schreibt, dass die zuständigen Behörden trotz aller Untersuchungen die Identität und die Adresse des Nutzers nicht herausfinden konnten, da diese nicht öffentlich zugänglich seien. Deshalb seien keine weiteren Ermittlungen möglich. Um die benötigten Informationen zu erhalten, müssten türkische Behörden die USA, also den Sitz des Unternehmens Meta, zu dem Instagram gehört, um Hilfe bitten.
Die USA würden aber nur auf Anfragen antworten, in denen es um „Anstiftung zum Suizid, Kindesmissbrauch oder Terror“ gehe. Demirs Anwalt hat Einspruch eingelegt, jedoch erfolglos. Demir glaubt, dass die Einstellung des Verfahrens Tayfun K. weiter ermutigen wird.
Wenn aus Drohungen Angriffe werden
Auch die HDP-Abgeordnete Dirayet Taşdemir, die ebenfalls von Tayfun K. bedroht wurde, denkt das. Und sie übt scharfe Kritik an den Regierungsparteien AKP und MHP. Jeden Tag drohten diese öffentlich den Parteimitgliedern der HDP und ermutigten damit auch ihre Basis dazu, es ihnen gleichzutun. Sie sagt: „Früher, in den 1990ern, war der Staat noch darum bemüht, solche Aktivitäten zu verschleiern und es gab so etwas wie ‚Jitem‘. Heute braucht es so eine Organisation nicht mehr. Heute wird offen gehandelt.“
Was Taşdemir beschreibt, zeigen auch zwei Vorfälle, die sich 2021 ereigneten: Am 17. Juni greift ein 27-Jähriger das Parteigebäude der HDP in Izmir an und tötet Deniz Poyraz, deren Familienmitglieder für die HDP arbeiten. Der Täter teilt daraufhin ein Foto ihres blutüberströmten Körpers in den sozialen Medien und stellt sich 40 Minuten später der Polizei. Bei seiner Vernehmung sagt er der Staatsanwaltschaft, dass er den Angriff eigenständig geplant habe, eigentlich mehr Menschen habe töten wollen und ihn begangen habe, weil er die PKK hasse.
Ein weiterer Angriff gegen die HDP hat sich in den letzten Tagen von 2021 ereignet. Ein Mann betritt ein HDP-Gebäude in Istanbul und gibt an, Parteimitglied werden zu wollen. Den Tee, den man ihm serviert, schleudert er auf die Menschen, die ihn empfangen. Dann geht er bewaffnet auf sie los und verletzt eine Person.
Der Angreifer wird später gefasst, am 3. Januar aus der Untersuchungshaft entlassen, vor Kurzem allerdings wieder festgenommen.
HDPler:innen, die mit einer Presseerklärung zunächst gegen die Freilassung protestierten, wurden von der Polizei unter Anwendung von Gewalt festgenommen. Auch dieser Vorfall zeigt, wie die Regierung zur HDP oder zu linksgerichteten Personen zu stehen scheint: Die Täter werden eher geschützt, die Opfer bestraft.
Die Behörden bleiben untätig
Bei den taz-Recherchen bleibt offen, ob Tayfun K. allein oder als Teil eines Netzwerks agiert, das möglicherweise bis nach Deutschland reicht. Offen bleibt auch, ob es in Deutschland Personen gibt, die ihm zuarbeiten. Das Bundeskriminalamt möchte sich auf Anfrage nicht zu möglichen Ermittlungsverfahren in dem Fall äußern.
Allerdings gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Diskussionen über türkische Geheimdienstaktivitäten in Deutschland, in denen es auch um die Weitergabe von Personeninformationen ging. Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Politikerin Sevim Dağdelen vom 28. Dezember 2021 dazu hat ergeben, dass der Generalbundesanwalt im Jahr 2021 sechs Verfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit türkischer Nachrichtendienste eingeleitet hat. Im Jahr 2020 waren es vier. In keinem der Fälle ist bisher Anklage erhoben worden.
Civan Akbulut fühlt sich in Essen nicht mehr sicher. Im Sommer 2021, nach der zweiten Drohung auf Instagram, kauft er sich Pfefferspray. Mittlerweile hat er eine neue Wohnung bezogen, für die er eine Meldesperre einrichten lassen will, damit fremde Personen keine Auskünfte über seinen Wohnort einholen können.
Doch wie kann es sein, dass Tayfun K. so offen und ungeniert auftreten kann, ohne von den deutschen und türkischen Behörden belangt zu werden?
Solange die Behörden nicht handeln, sind Akbulut und andere linke und kurdische Politiker:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen weiterhin dem rechten Terror ausgesetzt.
Am 3. Januar postet Tayfun K. ein letztes Mal, bevor der Account seines Handyladens Teknotell offline geht. Es ist wieder eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Rechtsextremisten und mutmaßlichen Mörders Mahmut Yıldırım aka Yeşil. In der Bildunterschrift gratuliert Tayfun K. ihm zum Geburtstag. Getaggt sind die Linkenpolitiker:innen Cansu Özdemir, Kerem Schamberger und der Journalist und taz-Autor Erk Acarer.
Mitarbeit: Sebastian Erb
Die Veröffentlichung dieser Geschichte wurde unterstützt durch ein Stipendium vom NewsSpectrum Fellowship Programm. Der Text ist auf türkisch bei dem Kooperationsmedium Artı Gerçek erschienen.
*Der volle Name von Tayfun K. ist der Redaktion bekannt.
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