Rechtsberatung in Abschiebehaft: Jeder Zweite ist zu Unrecht hier
Niedersachsen hat gleich neben dem Flughafen einen Abschiebeknast. Nun können sich Inhaftierte wenigstens beraten lassen. Der Bedarf wird größer.
Ausländerbehörden sind besonders zäh. Zuletzt zeigte sich das in dem niedersächsischen Landkreis Leer. Dort sperrte man den Vater einer Familie aus dem Kosovo kurzum in Abschiebehaft, obwohl die Familie laut der gültigen Grenzübertrittsbescheinigung noch zehn Tage Zeit hatte, das Land zu verlassen. Der Vater von sechs Kindern meldete sich sogar wöchentlich beim Sozialamt. Trotzdem sprach der Landkreis Leer von „Fluchtgefahr“ und beantragte beim Amtsgericht Abschiebehaft. Mit Erfolg.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen benachrichtigte das Landesinnenministerium. Das wiederum stufte die Haft als rechtswidrig ein und empfahl dem Kreis Leer, erneut zu prüfen. Daraufhin kam der Mann nach elf Tagen Freiheitsentzug wieder frei.
Am 4. August um 7.30 Uhr schob der Landkreis Leer die Familie, darunter einjährige Zwillinge, schließlich ab. Niemand war untergetaucht. Warum der Vater elf der letzten Tage in Deutschland in Haft verbringen musste, begründete der Landkreis-Sprecher mit der Sorge, dass die Familie untertaucht: Die Familie hatte laut Amt am 12. Juli eine leere Wohnung hinterlassen. Sie war aber nicht untergetaucht, sondern verreist: zum Bruder, nach Bremerhaven.
Für Fälle wie diesen hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen zusammen mit dem Landesjustizministerium eine Rechtsberatung in der JVA Hannover-Langenhagen ins Leben gerufen. Oder wie das Justizministerium formuliert: „In Erwartung steigender Gefangenenzahlen wurde die Schaffung eines derartigen Angebots geprüft.“
14.948 rechtswidrige Hafttage
Denn leider ist der Vorgang aus Leer kein Einzelfall, sondern seit Jahrzehnten Praxis in Deutschland. In den 1990er-Jahren waren die Abschiebeknäste besonders voll. „Damals gab es in der JVA Hannover über 400 Menschen in Abschiebehaft“, sagt Kai Weber, Geschäftsführer des niedersächsischen Flüchtlingsrats, „Haftzeiten bis zu 18 Monaten waren keine Ausnahme, selbst Kinder und Jugendliche saßen ein.“ Derzeit seien es meistens zwischen zehn und 15 Personen. Doch wegen der verschärften Asylgesetze steige die Zahl wieder.
Auch deswegen bietet der Flüchtlingsrat jetzt zweimal wöchentlich in Langenhagen eine unabhängige Rechtsberatung an. Es gibt bereits vergleichbare Projekte in anderen Bundesländern, aber es ist das erste Mal, dass ein Ministerium eine Beratung gemeinsam mit einem Flüchtlingsrat anbietet. Der Modellversuch läuft zunächst für ein Jahr.
„Eine Inhaftierung ist ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit. Sie kann und darf nur Ultima Ratio sein“, sagt Kai Weber. „Ist sie aber nicht.“
Die Beratung soll Menschen in Abschiebehaft in zwei Punkten helfen: Erstens soll überprüft werden, ob die Inhaftierung rechtmäßig war, zweitens soll sie kontrollieren, dass die Häftlinge unversehrt bleiben. Dazu kann sie bei Vorbereitungen für eine Ausreise zur Seite stehen, in dem sie etwa Kontakt zur Botschaft des Herkunftslandes aufnimmt.
Wie viele Personen tatsächlich unrechtmäßig in Abschiebehaft gerieten, ist unklar. Verlässliche Zahlen darüber gibt es nicht. Der Rechtsanwalt Peter Fahlbusch hat jedoch einen guten Einblick: Seit 2001 vertritt er Mandanten in Abschiebungshaftverfahren und führt Statistik. Bis zum 31. August 2015 waren von insgesamt 1.008 seiner Mandanten 551 rechtswidrig inhaftiert – also mehr als jeder Zweite. Nach Fahlbuschs Berechnungen ergeben sich daraus 14.948 rechtswidrige Hafttage – und insgesamt knapp 41 Jahre Knast.
Von diesen Menschen geht keine Gefahr aus
Damit Schutzsuchende in Haft in Zukunft zu ihrem Recht kommen, startete das Projekt vergangenen Dienstag und bereits der erste Termin zeigte, wie wichtig unabhängige Rechtsberatung ist. Vor Ort war der Jurist Muzaffer Öztürkyilmaz, der drei Inhaftierte beriet: „Bei einem kann ich schon ohne Akteneinsicht sagen, dass die Haft rechtswidrig ist“, sagt er. Diesmal war es ein Amtsgericht in Delmenhorst, dass den Antrag auf Inhaftierung durchgewunken hat.
Mit den Gesetzesverschärfungen durch die Asylpakete I und II ist der Rechtsbeistand sogar noch wichtiger geworden: Die Bedingungen für Abschiebehaft wurden verringert, neue Voraussetzungen für einen Freiheitsentzug festgeschrieben. Nach einer Änderung im Aufenthaltsgesetz dürfen Personen beispielsweise zur Abschiebung in Haft genommen werden, weil sie keinen Pass mehr haben – etwa wenn die Behörde unterstellt, dass sie ihn „vernichtet“ hätten.
Das sieht der Jurist als problematisch an: „Oftmals kassieren die Schlepper den Ausweis ein und geben ihn nicht zurück.“ Personen, denen das widerfährt, können aufgrund dieser neuen Regelung also vorsorglich in Abschiebehaft kommen. Genau so ist es bei Menschen, die viel Geld für die Flucht gezahlt haben, sagt der Anwalt. „Tatsächlich gibt es kaum Geflüchtete, die für ihre Flucht nichts gezahlt haben.“ Nun müsse man rechtlich darüber streiten, was „viel Geld“ sei.
Die Fluchtroute und die Finanzierung fragt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits im ersten Gespräch mit Asylsuchenden ab. Diese Erkenntnisse nutzt das Amt im Fall einer späteren Abschiebung, sagt Öztürkyilmaz. Er bezweifelt die Verhältnismäßigkeit: „Es kann nicht sein, dass Menschen die Freiheit entzogen wird, weil sie gegen eine Verwaltungsvorschrift verstoßen.“ In Hannover werde ein ganzer Knast nur für Abschiebehäftlinge betrieben. Dabei gehe von diesen Menschen doch keine Gefahr aus.
Zumindest gibt es endlich eine Anlaufstelle für Menschen in Abschiebehaft. Laut Flüchtlingsrat ist das dem politischen Kurswechsel in Niedersachsen zu verdanken. Das muss jetzt nur noch jemand an die Ausländerbehörde nach Leer faxen.
Lesen Sie mehr über die Rechte von Flüchtlingen, Migrationsanwälte und die Bedeutung von beratendem Beistand im deutschen Asylsystem in unserem Schwerpunkt in der Nordausgabe der taz.amWochenende auf Seite 41, 43 bis 45 oder im E-Kiosk.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin