Willkür bei Abschiebung: Wird schon stimmen

Bremerhaven beurteilt die Reisefähigkeit von psychisch Erkrankten nach Aktenlage. Nach dem Suizidversuch einer Albanerin hakt die Linksfraktion nach.

Belastungsstörung? Also hier steht reisefähig. Foto: Sebastian Kahnert/dpa

BREMEN taz | Das war laut Akten nicht vorgesehen: Eine schwer traumatisierte Albanerin aus Bremerhaven hatte Ende März angesichts ihrer bevorstehenden Abschiebung versucht, sich das Leben zu nehmen (taz berichtete). Die Linksfraktion in der Bürgerschaft hat diesen Fall jetzt zum Anlass für eine Große Anfrage genommen.

Die betroffene Frau hatte bereits mehrere Suizidversuche unternommen und leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, was auch beim zuständigen Gesundheitsamt aktenkundig war. Dennoch wurde die Abschiebung im März angesetzt – obwohl ein Amtsarzt die Suizidgefährdung der Frau festgestellt hatte. „Das ist ein Fall, der skandalös tragisch geendet ist“, sagt die Linken-Abgeordnete Sofia Leonidakis, „aber das Problem hat System“.

Wie die Linksfraktion in ihrer Anfrage ausführt, werden „ärztliche Reisefähigkeitsgutachten im Gesundheitsamt Bremerhaven seit Kurzem nur noch nach Aktenlage“ und nicht durch Fachärzte angefertigt. Das Gesundheitsressort bestätigte diese Praxis auch in einer Vorlage für die Gesundheitsdeputation Anfang Juni. Demnach finde „auf Grund des erheblichen Umfanges von Anfragen der Ausländerbehörde zu Reisefähigkeiten“ eine Begutachtung nach Aktenlage statt.

In Bremen hingegen findet „in jedem Fall eine Einzelfallprüfung im Rahmen eines persönlichen Gutachtengesprächs“ statt. Die geübte Praxis in Bremerhaven und damit die „Absenkung der Begutachtungsstandards“, wie es in der Anfrage heißt, führt Leonidakis auf Personalmangel zurück. Wie lange diese Praxis in Bremerhaven schon üblich ist, will die Linksfraktion ebenfalls vom Senat wissen. Ebenso soll die Landesregierung beantworten, wie viele Personen bislang davon betroffen waren und es noch sind. Mindestens seit Januar 2017 werde in Bremerhaven schon auf diese Weise verfahren, sagt Leonidakis.

Im Fall der Frau in Bremerhaven sei zwar ein Arzt zugegen gewesen, der vor Ort die Reisefähigkeit überprüfen sollte, „aber das sind Notfallmediziner und keine psychiatrischen Fachärzte, die Abschiebungen begleiten“, sagt Leonidakis, „die messen den Blutdruck und sagen: Ja, kann reisen. Ich finde das fahrlässig.“

Die Ausländerbehörde hatte im konkreten Fall entschieden: Mit Begleitung eines Arztes und unter Sicherstellung der „Inempfangnahme“ durch einen Arzt in Albanien sei die Frau trotz der posttraumatischen Belastungsstörung reisefähig.

Unangekündigt standen dann an einem Dienstag Ende März sechs Polizisten, Mitarbeiter der Ausländerbehörde und ein Arzt vor der Tür der psychisch kranken Frau. Der Asylantrag der 45-Jährigen, ihres Mannes und der elf und 17 Jahre alten Söhne war abgelehnt worden. Als die Frau begriff, was geschah, nahm sie ein Messer und versuchte, sich die Pulsadern und ihren Bauch aufzuschneiden. Sie hielt das Messer so fest umklammert, dass ein Finger zerschnitten wurde, als ein Polizist es ihr entriss. All das geschah vor den Augen ihrer Kinder.

Sofia Leonidakis, Abgeordnete der Linken

„Die messen den Blutdruck und sagen: Ja, kann reisen. Ich finde das fahrlässig“

Die Familie habe sich bereit erklärt, freiwillig auszureisen, rechtfertigte damals Magis­tratssprecher von Bremerhaven, Volker Heigenmooser, die Aktion. Sie habe aber wiederholt Termine bei der Rückkehrberatung der AWO nicht wahrgenommen. „Deswegen sollte die Abschiebung erfolgen.“ Darüber hinaus habe das Gesundheitsamt die Ausländerbehörde ja auf die Suizidgefahr von Arjona S. aufmerksam gemacht, „deswegen sollte sie ja auch ein Arzt begleiten“.

Nach dem Asylpaket II gelten als Abschiebehindernis nur noch „lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden“. Damit sind körperliche, nicht aber psychische Erkrankungen gemeint – auch nicht posttraumatische Belastungsstörungen. Denn laut Gesetzgeber handelt es sich dabei nicht „regelmäßig“ um eine schwerwiegende Erkrankung. Somit soll ein Abschiebehindernis nur dann gegeben sein, wenn bei Belastungsstörungen „die Abschiebung (…) zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung“ führt. Die wurde im Falle der Frau aus Bremerhaven allerdings offenbar ignoriert.

Die Albanerin, die sich immer noch in stationärer psychiatrischer Behandlung befindet, hat inzwischen durch einen Antrag vor der Härtefallkommission eine Aufenthaltsperspektive.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.