Rechte Chats bei Polizei Frankfurt: „Neue Dimension“ im SEK-Skandal
Hessens Innenminister räumt ein, dass mehr Polizisten in der rechten Chatgruppe waren als angenommen. Die Opposition ist empört, die Grünen schweigen.
Neben den 20 aktiven und ehemaligen Angehörigen des Frankfurter SEK-Kommandos, gegen die Ermittlungen aufgenommen wurden, gehörten mindestens 29 weitere hessische Polizeibeamte zu dieser Chatgruppe. Gegen neun von ihnen laufen inzwischen Disziplinarverfahren, ihre Beiträge seien allerdings nicht strafbar, berichtete der Minister. Schon vor zwei Jahren war zufällig eine Chatgruppe mit rechtsextremen Nachrichten im Polizeipräsidium Frankfurt aufgeflogen.
Im Frankfurter SEK-Kommando habe die „Führungs- und Fehlerkultur vollständig versagt“, bekannte Beuth am Mittwoch und begründete so die von ihm verfügte Auflösung der Einheit; zum Wochenbeginn habe er die Beamten zur Bereitschaftspolizei in Mainz-Kastel versetzt. Ein Neuanfang sei unabdingbar.
Laut Beuth erfuhr sein Haus am 25. April dieses Jahres erstmals vom Innenministerium Rheinland-Pfalz, dass gegen ein ehemaliges Mitglied des SEK Frankfurt wegen volksverhetzender und rechtsextremer Chats ermittelt werde. Der 38-jährige in Rheinland-Pfalz wohnhafte Mann war wegen des Besitzes und der Verbreitung kinderpornografischen Materials ins Fadenkreuz der Polizei geraten. Bei der Auswertung seiner Datenträger und Handys stießen die Mainzer Ermittler auf die Chatgruppe und schlugen Alarm.
Eine „spezielle Atmosphäre“
Die Frankfurter Staatsanwaltschaft erwirkte nach verdeckten Ermittlungen am 3. Juni Durchsuchungsbefehle. Gegen 20 Mitglieder des SEK bejahte sie einen Anfangsverdacht. Darunter sind laut Beuth drei Vorgesetzte, denen Strafvereitlung im Amt vorgeworfen wird. Einer der Beschuldigten war 2018 vom SEK in die Polizeiakademie versetzt worden. Dort durfte er angehende Polizeibeamte ausbilden.
Nur auf hartnäckiges Nachfragen bekamen die Abgeordneten am Mittwoch im Innenausschuss einen Eindruck vom „falsch verstandenen Corpsgeist“ der aufgelösten SEK-Truppe. So erläuterte der von Beuth eingesetzte neue Chef der SEK-Beamten, der Wiesbadener Polizeipräsident Stefan Müller, weshalb die Einheit aus Frankfurt nach Mainz-Kastel umziehen muss. Die Diensträume im Frankfurter Polizeipräsidium hätten sich bei einer Inspektion als für einen Neustart „ungeeignet“ erweisen, sagte er. Er habe dort eine „spezielle Atmosphäre“ ausgemacht.
Als Beispiel nannte er das überlebensgroße Foto eines im Einsatz zu Tode gekommenen Kollegen am Ende eines Flures und sprach von einer „falschen Trauerkultur“. Die Wände seien mit Fotos posierender SEK-Beamter bedeckt gewesen, dazu überall Trophäen und Pokale.
Aufgefallen seien ihm Bilder und Poster aus dem umstrittenen Actionfilm „300“, der den Kampf der Spartaner gegen die Perser verherrlicht. Dass dabei auch Symbole der Identitären Bewegung zur Schau gestellt worden sein könnten, wollte Müller nicht ausschließen. Die Wände müssten „neu gestrichen“ werden, bilanzierte der neue Chef.
13 der Beschuldigten in Hanau im Einsatz
Und auch der bisherige Chef, der Frankfurter Polizeipräsident Gerhard Bereswill, mochte nicht widersprechen. Er habe sich am vergangenen Sonntag selbst einen Eindruck verschafft, sagte er und sprach von einer roten Linie der Selbstbeweihräucherung, die dort überschritten worden sei.
Beuth bestätigte am Mittwoch auch Berichte, dass 13 der jetzt beschuldigten SEK-Mitglieder nach dem rassistisch motivierten Mordanschlag in Hanau im Einsatz gewesen seien. Der Einsatz steht in der Kritik, weil das SEK das Wohnhaus des Attentäters erst Stunden nach den Morden gestürmt hatte.
Die Chataktivitäten der jetzt aufgeflogenen Gruppe waren Anfang 2019 zum Erliegen gekommen, wohl wegen der Ermittlungen im Zusammenhang mit den „NSU 2.0“-Drohschreiben. Gleichwohl sind die Inhalte der Chats, die im Mainzer Ermittlungsverfahren dokumentiert wurden, offenbar schwerwiegend und nicht verjährt. Jetzt werden die Anfang Juni sichergestellten Datenträger ausgewertet. Dass sich dabei neue Ansatzpunkte ergeben könnten, wollten Minister und Staatsanwaltschaft nicht ausschließen. Bislang gebe es lediglich einen Zwischenstand.
Von einer „neuen Dimension“ des Skandals sprach am Ende der Sitzung des Innenausschusses die SPD-Landesvorsitzende Nancy Faeser. Linken-Fraktionschefin Janine Wissler sagte, sie sei fassungslos.
Deutliche Kritik kam auch vom Ausschussmitglied Jörg-Uwe Hahn, FDP. Der frühere hessische Justizminister fragte den seit 2014 regierenden Innenminister Beuth: „Was soll denn noch passieren?“ Immer wieder müsse der Minister über Skandale berichten, kündige Neustarts und konsequente Maßnahmen an. „Es passiert nichts!“, sagte Hahn; er fordere keinen Rücktritt, aber Beuth müsse sich doch langsam die Frage nach seiner eigenen Verantwortung stellen. „Ich bin müde!“ Von Beuths aktuellem Koalitionspartner, den Abgeordneten der Grünen, gab es dagegen keine einzige kritische Nachfrage.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter