Reaktionen auf das Sylt-Video: Von nichts gewusst
Dass Leute auf Sylt rassistische Parolen brüllen, hat online für Schock und Überraschung gesorgt. Doch die Reaktionen sind unaufrichtig.
E s ist wieder passiert: Rassismus in Deutschland wurde dokumentiert und medial öffentlich gemacht. Ein rassistischer Vorfall hat unsere Aufmerksamkeit und wird zum Aufreger im Netz. Habt ihr das Sylt-Video gesehen? Ich auch. Auf allen Plattformen. Rassistisches und menschenverachtendes Verhalten gehört aufgezeigt, problematisiert, öffentlich bloßgestellt und geächtet. Gut wenn so etwas viral geht und niemand so tun kann, als hätte man es leicht nicht mitkriegen können. Richtig so.
Doch dann beginnt das Überraschungs-Game. Das Spiel ist so nervig wie vorhersehbar: Irgendwas mit Rassismus geht viral und wird in den Medien diskutiert. Dann kommen die Reaktionen und Statements. Von Politiker*innen und Privatleuten. Von Medienpersönlichkeiten und Leuten mit einem Insta-Account.
Viele Menschen sagen, sie seien schockiert. Jedes Mal, ob in Reaktion auf Beleidigungen im Alltag, auf rassistische Chatnachrichten einer Behörde, beim Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft oder eben wenn ein Video kursiert auf dem irgendwelche reichen Leute auf einer deutschen Insel in bester Partylaune rassistische Parolen grölen und den Hitlergruß zeigen.
Irgendwer ist immer überrascht. All diese Momente, in denen sich Rassismus öffentlich zeigt, sind ganz unterschiedlich einzuordnen, kommen aber aus dem gleichen rassistischen Grundton in diesem Land. Deswegen ist daran selbstverständlich nichts überraschend. „Schockierend“ lasse ich gelten.
Sie sind nicht überrascht, sie tun nur so
Ich bin nicht die Einzige, die sich an der vorgetragenen, behaupteten Überraschung stört. Denn auf solche ersten Statements folgt eine zweite Welle. Es ist die Empörung über die Überraschung: eine Welle an Tweets und Instagram-Storys, in denen Leute erklären, dass sie nicht überrascht sind. Wie gesagt, ich bin es auch nie. Doch die Abläufe dieser Reaktionen wiederholen sich so sehr, dass sie schon einstudiert wirken und ich beginne, an der Aufrichtigkeit von beidem zu zweifeln: Die Reaktion ist nicht echt und die Gegenreaktion auch nicht.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Menschen, die in diesem Land leben, wirklich von nichts wissen? Dass ihnen das rassistische Klima nicht bewusst ist, sie von Halle und Hanau nichts mitbekommen haben? Kennen sie nicht die Wahlergebnisse und Umfragewerte der AfD? Wer einen Internetzugang hat, weiß, was hier los ist und wird nicht von Rassismus „überrascht“. Wer ins Internet kommt, um seine Überraschung auszudrücken, kann nicht überrascht sein.
Und die Unüberraschten wie ich? Wir spielen das Spiel mit, in dem wir die Überraschung durch unsere Gegenposition legitimieren. Vor allem wenn wir als Betroffene argumentieren. „Ich, die ich Rassismus erfahre, bin nicht überrascht“, ist bestimmt eine befreiende Aussage und weist darauf hin, dass nicht alle auf die gleiche Weise Rassismus erfahren. Dass es ein weißes Privileg ist, überrascht sein zu können. Dabei schwingt aber eine Entschuldigung mit für alle, die sich ignorant stellen: „Ich weiß etwas, das du nicht so gut wissen kannst.“
Sie sind nicht überrascht. Sie tun nur so. Sie entscheiden sich dafür, die rassistische und faschistische Gefahr zu ignorieren. Das nächste Mal sollte die Reaktion also nicht sein: „Du bist überrascht und ich bin es nicht“, sondern: „Ich bin nicht überrascht, und ich weiß, du bist es auch nicht. Was machen wir jetzt?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär