Rassismuskritische Psychotherapie: Rassismus macht krank
Zu oft werden Diskriminierungserfahrungen vernachlässigt. Therapeut:innen müssen sich fragen: Durch welche Brille schaue ich denn selbst?
Eine besondere Form der Demenz kursiert in der Psychotherapie: die Gesellschaftsvergessenheit. Strukturelle Faktoren wie Armut oder Diskriminierungserfahrungen zu vernachlässigen ist quasi eine Berufskrankheit. „Da wir so gut darin ausgebildet sind, das Individuum wahrzunehmen, glauben wir, den ganzen strukturellen Diskriminierungskontext weglassen zu können – und das ist natürlich fatal“, sagt Dr. Birsen Kahraman. Sie ist selbst Therapeutin in München und bietet als Dozentin Fortbildungen in rassismus- und kultursensibler Psychotherapie für ihre Kolleg:innen an. Damit möchte sie ihrer eigenen Zunft die Gesellschaft näherbringen.
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Die sieht unter anderem so aus: Mehr als jeder Fünfte in Deutschland wurde schon einmal rassistisch behandelt, heißt es im Nationalen Diskriminierungs- & Rassismusmonitor NaDiRa. Und Rassismus macht krank: Menschen mit Diskriminierungserfahrungen leiden häufiger an Depressionen, Schizophrenie und Schlafstörungen. In Deutschland mangelt es dazu an Forschung, die meisten Studien stammen aus den Vereinigten Staaten oder aus Großbritannien.
Häufig gibt es keinen konkreten Auslöser, keinen einzelnen Übergriff, der eine Krankheit verursacht. Es ist die ständige Konfrontation mit alltagsrassistischen Bemerkungen und Handlungen, die an den Betroffenen nagt – und dass sie dauernd davor auf der Hut sein müssen. Dieser kontinuierliche Stress kann traumatisieren. Ursachen und Symptome unterscheiden sich jedoch teilweise von der etablierten Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“. Fachleute verwenden deshalb den Begriff „Racial Trauma“.
Kontrollmechanismus im Kopf
Bis ins Therapiezimmer schafft es dieses Wissen selten. „Ich finde es aber wichtig, nicht einzelnen Therapeut:innen Vorwürfe zu machen“, sagt Kiana Ghaffarizad, Kulturwissenschaftlerin und Lehrerin für therapeutischen Tanz. Das Problem sei kein individuelles, sondern ein strukturelles. Denn eine rassismussensible Haltung zu entwickeln sei kein Teil der therapeutischen Ausbildung.
Ghaffarizad beschäftigt sich an der Pädagogischen Hochschule Freiburg mit den Konsequenzen. Das Thema ihrer Promotion: Die „(De-)Thematisierung von Rassismus“ in der Psychotherapie. „Alle Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, bereiten sich vor einer Sitzung mental darauf vor, dass ihnen ihre Erfahrung in der Therapie abgesprochen werden könnte“, sagt sie. Für die Klient:innen entstehe daraus eine Doppelbelastung, weil im Kopf immer ein Kontrollmechanismus mitlaufe: „Sage ich das jetzt oder nicht?“ „Ich konnte es nie einfach mal fließen lassen“ – so drückte es eine der Personen aus, die Ghaffarizad für ihre Doktorarbeit interviewte.
Was können Therapeut:innen dagegen tun? Am Anfang muss eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation stehen, findet die Psychologin Kahraman. „Viele glauben, es sei wichtig, die Kultur des Klienten zu reflektieren. Doch als Therapeut:in muss man vor allem die eigene kulturelle Prägung kennen und wissen, durch welche Brille man selbst schaut.“ Dazu gehöre sich zu fragen, wo man sich selbst unbewusste rassistische Denkmuster angeeignet hat. Denn das Unwissen darüber sei häufig der Auslöser für die Relativierung diskriminierenden Verhaltens. Die eigene soziale Stellung und Privilegien zu hinterfragen: Auch das lerne man in der bisherigen Ausbildung kaum.
15 Anfragen pro Woche
Therapeut:innen sollten ihren Klient:innen auch erklären können, was Rassismus mit der Psyche macht. „Natürlich spüren Betroffene die Belastung, emotional und körperlich“, erklärt Kahraman. „Aber keiner sagt ihnen: ‚Rassismus macht ja auch krank‘ oder ‚Das ist ja wirklich auch enorm, was du da die ganze Zeit schlucken musst‘.“ Bis sich das ändert, werden die Wartezeiten wohl lang bleiben in den wenigen Praxen, die explizit einen rassismuskritischen Ansatz verfolgen. In München bei Birsen Kahraman sind das aktuell mehrere Monate, die meisten Patient:innen könne sie aber gar nicht aufnehmen, bei oft mehr als 15 Anfragen pro Woche.
Doch es tut sich was: Mit der 2019 beschlossenen Ausbildungsreform wurde zum ersten Mal festgeschrieben, dass Therapeut:innen die „menschliche Diversität in der Psychotherapie in Bezug auf Gender, Ethnie beziehungsweise Kultur, sexuelle Orientierung, Beeinträchtigung und andere Aspekte“ berücksichtigen können müssen.
Das geschieht nicht zuletzt auf Druck zahlreicher Studierendeninitiativen, die eigenständig Veranstaltungsreihen durchführen. Die Psychologiefachschaft der Universität Bremen organisierte letztes Jahr etwa mehrere Vorträge zur „intersektionalen Psychologie“.
Denn auch Diskriminierungsformen wie Homo- und Transfeindlichkeit werden in der Therapie zu selten berücksichtigt. Wie groß das Interesse an einer rassismuskritischen Psychotherapie inzwischen ist, zeigte sich im Januar auf einer von Birsen Kahramans Fortbildung: Über 400 auszubildende und praktizierende Psychotherapeuten erschienen zu dem Onlineseminar.
Wissen aus den 90ern
All das passiert nicht einfach so, nicht aus heiterem Himmel. „Es ist wichtig, auch zu würdigen, wie viel an jahrzehntelanger Arbeit von Schwarzen, Migrantischen, Jüdischen und Therapeutinnen of Color, von Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen da reingeflossen ist“, sagt die Doktorandin Ghaffarizad. „Auf dieses Wissen kann die jüngere Generation jetzt zurückgreifen.“
Die afrodeutsche Dichterin und Erziehungswissenschaftlerin May Ayim war so eine Vorreiterin. Schon Anfang der 1990er Jahre begann sie eine Promotion zum Thema „Ethnozentrismus und Rassismus in Therapiebereichen“. Zur Fertigstellung kam es nicht; am 9. August 1996 suizidierte Ayim.
Die noch vor ihrem Tod veröffentlichten Texte sind heute eine wichtige Bezugsquelle für die Doktorarbeit von Kiana Ghaffarizad: „Es tun sich so viele Parallelen auf, zwischen dem, was sie vor 30 Jahren schrieb, und dem, was meine Gesprächspartner:innen mir in den letzten zwei Jahren erzählten.“
Denn auch wenn die Gesellschaftsvergessenheit einem Bewusstsein für marginalisierte Gruppen weicht, auch wenn das Therapiezimmer zu einem sicheren Ort für Betroffene von Diskriminierung wird – vor der Tür wartet die rassistische Realität. Eine ihrer Interviewpartnerinnen formulierte das so: „Dann habe ich eben Therapie, aber wenn ich raus in diese scheiß Gesellschaft gehe, werde ich wieder retraumatisiert. Was soll ich machen? Ich will nicht ewig in Therapie sein!“
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