Mikroaggressionen und Psyche: Kaum sichtbar, aber sehr toxisch

Mikroaggressionen können krank machen. Und sie treffen hauptsächlich marginalisierte Gruppen. Das Empfinden von Betroffenen muss anerkannt werden.

Portrait von Dr. Chester M. Pierce. Er ist ein Schwarzer Mann und steht an einem Mikro. Er gestikuliert mit der linken Hand.

Dr. Chester M. Pierce, der Schöpfer des Begriffs „Mikroaggression“ 1972 auf einer Vorlesung Foto: David Cupp/Denver Post/Getty Images

„Unsere Beherrschung der Mikroaggressionen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, härtet ab und sensibilisiert zugleich“, schreibt Kol­le­g*in Michaela Dudley in Bezug auf die strukturelle Unterdrückung von BIPoC, insbesondere von weiblich gelesenen. Dass das Kraft kosten muss und sogar krank machen kann, findet in der Mehrheitsgesellschaft kaum Beachtung.

Mikroaggressionen – geprägt hat den Begriff der US-amerikanische Psychiater Chester Pierce, um seine eigenen Erfahrungen als Schwarzer Student an der Harvard University in den 70er-Jahren zu beschreiben. Dort erlebte er immer wieder abwertende Äußerungen weißer Mitstudent*innen, explizit wie implizit. Weitergedacht hat das der Psychologe Derald Wing Sue. So betreffen Mikroaggressionen hauptsächlich marginalisierte Gruppen, neben BIPoC beispielsweise auch queere Menschen oder jene mit Behinderung.

Wie viele Menschen in Deutschland aufgrund von Rassismus und den damit einhergehenden Mikroaggressionen psychisch erkranken, lässt sich nicht genau sagen. Dass das deutsche Gesundheitssystem darauf nicht eingestellt ist, schon. Das fange bereits mit der Repräsentation in der psychotherapeutischen Ausbildung an, wo es meist nur einige wenige BIPoC pro Jahrgang gebe, sagt der Psychologe Eben Louw im Interview mit Vogue. Louw arbeitet bei Opra, einer Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin.

Rassismus und Mikroaggressionen, ebenso wie andere Arten der Diskriminierung, wirken sich auf den Selbstwert aus. Sie können Traumata verursachen, die sich in die Psyche einschreiben und sie allmählich zerstören. Durch Stress. Über einen längeren Zeitraum wirkt er sich negativ auf die allgemeine Gesundheit aus.

Dem entgegenwirken kann psychotherapeutische Betreuung, indem sie zunächst mal Wahrnehmung und Empfinden Betroffener anerkennt. Ich selbst bin immer noch erstaunt, wenn mein Therapeut meine Gefühle als legitim erachtet und mich nicht, wie ich es als Frau vorher oft erlebt habe, als hysterisch wahrnimmt. Das macht viel aus.

Um Menschen ihre Rassismuserfahrungen nicht leichthin abzusprechen oder die von außen oft viel schwerer erkennbaren rassistischen Mikroaggressionen anzuerkennen, braucht es (mehr) Expert*innen. „Race doesn’t exist, but it matters“, so Louw, „eigentlich muss jeder nur gesehen werden.“ Farbenblindheit und das Leugnen rassistischer Strukturen seien kontraproduktiv.

So kommt es nicht selten zu einer Re-Viktimisierung, bei der die Betroffenen durch das Bagatellisieren ihrer Wahrnehmung erneut zum Opfer von eben jenen Mikroaggressionen werden. Viele trauen sich dann nicht mehr, sich Hilfe zu suchen, aus Angst, nicht verstanden zu werden. Das ist kontraproduktiv – und im schlimmsten Fall lebensbedrohlich.

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Sophia Zessnik ist seit 2019 bei der taz und arbeitet in den Bereichen Kultur und Social Media. Sie schreibt am liebsten über Alltägliches, toxische Männlichkeit und Menschen im Allgemeinen. In ihrer Kolumne „Great Depression“ beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema psychische Gesundheit.

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