Rätselraten in Russland: Fahndung nach dem Kremlchef
Seit über einer Woche ist Wladimir Putin abgetaucht und hat mehrere Termine platzen lassen. Die Gerüchteküche brodelt. Lebt er überhaupt noch?
MOSKAU taz | Wieder ist Wladimir Putin verschwunden. Nun schon länger als eine Woche. Das wäre nicht dramatisch, würde nicht der russische Präsident das Volk sonst mit mehrmaligen Auftritten täglich im staatlichen Fernsehen verwöhnen. Der Kremlchef ist omnipräsent. Die Imagestrategen im Kreml haben aus Putin einen nimmermüden, immer wachsamen Multitasker gemacht, dessen einzige Leidenschaft seinem Land gilt.
Die Kommunikation mit dem Volk ist jedoch seit Langem nachhaltig gestört, es gibt keinen Dialog, der nicht inszeniert wäre. Dieses Netz des Schweigens wird in solchen Momenten durch aberwitzige Gerüchte und kühnste Spekulationen aufgefüllt. Daran beteiligen sich Volk und Elite mit gleicher Inbrunst. Fakten sind Nebensache.
Bei der Rekonstruktion des Aktivitätsprofils des Vermissten jedoch stößt die fahndende Gesellschaft auf der Website des Kremls auf Termine und Treffen, die der Präsident nach Auskunft gut informierter Kreise nicht wahrnahm. Auch der Tagesablauf ist bereits eine Legende. Hat Wladimir Putin doch noch eine andere, ist er mit ihr zur Niederkunft beim Feind im Westen? Unterzieht er sich erneut einer Verjüngungskur? Lebt er überhaupt noch? Wurde er schon weggeputscht?
In einem Staat, der am Wohl und Wehe eines einzigen Menschen hängt, ist die Unruhe verständlich, taucht dieser ab. Es zeugt von tiefer Rücksichtslosigkeit, als wolle sich jemand über das Volk lustig machen. Im Vergleich zum Herrschaftsstil Putins war die kollektive Führung der KPdSU eine plurale Veranstaltung, die Sicherheit bot.
Rückkehr aus der Märchenwelt
Wladimir Putin hat alles um sich herum eingestampft. Nun ist der Flüchtige nicht nur Oberkommandierender der Streitkräfte, sondern er führt auch gerade Krieg. Das Volk, dem eingeredet wird, es werde überfallen, könnte sich im Stich gelassen fühlen. Auch herrscht eine Krise im Land, die es sinnvoll erscheinen ließe, wenn der Chef aus seiner Märchenwelt zurückkehrte.
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Es ist in der Tat schwer nachzuvollziehen, warum die Menschen den Kremlchef im Urlaub oder im Krankenbett nicht sollen sehen dürfen. Doch darum geht es: Wladimir Putin ist nicht wie jeder andere. Er ist ein Wesen, das Krankheit, Tod und seinen Körper „besiegt“. Der Gesundheitszustand ist in Russland immer auch eine Machtfrage. Der Körper des politischen „Liders“ enthält noch einen symbolischen Zusatzwert, der sich aus der besonderen Beziehung zur politischen Gemeinschaft ableitet.
Einzige Informationsquelle der Bürger sind die Staatssender. Kremlsprecher Dmitri Peskow verbiegt sich regelmäßig die Zunge, um den Verdacht vom Präsidenten abzuwenden, auch dieser könnte menschliche Bedürfnisse hegen. Das Volk ist ambivalent: Es glaubt, was es glauben möchte. Die historische Erfahrung sagt ihm aber: Das Wichtigste wird zu Hause vorenthalten. Eher als das eigene Volk erführe der Westen, was los ist.
Physisch geht es Putin gut, meinen russische Beobachter. Sollte er psychisch angeschlagen sein, sei auch das verständlich. Die Reise nach Kasachstan verschob der Kremlchef diese Woche wohl, weil die Kollegen von der Eurasischen Zollunion nicht nach Moskaus Pfeife tanzen wollten. Zu Hause hängt ihm der Mord am Oppositionellen Boris Nemzow nach. Wer auch zur Rechenschaft gezogen wird, eine unverzichtbare Machtstütze droht verloren zu gehen. Er hat sich vorführen lassen. Hinzu kommt eine schwere Rezession.
Wer will da morgens schon aufstehen? Wie viele Tage der Präsident der Pflicht schon fernblieb, zählt eine ukrainische Website. Vor dem Hintergrund tanzender Schwäne aus Tschaikowskys Ballett.
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