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Putins BürgersprechstundeBeschädigter Leader

Kommentar von Barbara Oertel

Wladimir Putin empfiehlt sich in seiner Bürgersprechstunde als „Leader“ – während die Infektionen steigen und Oppositionelle kriminalisiert werden.

Auf die Frage nach der Zukunft antwortete Putin, das Beste komme erst noch Foto: reuters

S ie hätte so schön werden können, die alljährliche Veranstaltung von Wladimir Putin an diesem Mittwoch, bei der sich Russlands Präsident Fragen der Bür­ge­r*in­nen stellte – alle vorher sorgsam ausgewählt, versteht sich. Doch leider gibt es dieses verflixte Virus. Und da lautet der Befund für Russland: Dumm gelaufen! Obwohl mit Vakzinen beileibe nicht unterversorgt, explodieren – wieder einmal – die Coronazahlen. Ein Großteil der Bevölkerung weigert sich jedoch bislang hartnäckig, den Arm hinzuhalten. Und das trotz der Einführung von Zwangsmaßnahmen und staatlicher Köder wie Lotteriegewinnen und bescheidenen pekuniären Motivationshilfen.

Dass Putin mit seiner Werbung für die Spritze nebst Coming-Out, auch er habe sich mit Sputnik impfen lassen, dieser weit verbreiteten Skepsis etwas entgegen setzen kann, darf bezweifelt werden. Denn der Unwille vieler Russ*innen, sich den Schuss abzuholen, ist vor allem ein Misstrauensvotum gegen den Staat und damit nicht zuletzt auch gegen Putin selbst. Woher soll das Vertrauen auch kommen, wenn jede/r weiß, dass offizielle Daten geschönt sind? Zudem dürften sich viele noch an die Anfangszeit der Pandemie erinnern, als einige Ärz­t*in­nen und Mit­ar­bei­te­r*in­nen in Kliniken, die unangenehme Wahrheiten ausgesprochen hatten, gefeuert wurden oder gar unter merkwürdigen Umständen zu Tode kamen.

Putin hat längst begriffen, dass es mit seinem Nimbus als starker „Leader“ und Garant für Stabilität nicht mehr allzu weit her ist. Um das zu erkennen, war auch aufschlussreich, was bei der „Volksfragestunde“ beredt beschwiegen wurde. Themen wie Opposition und Zivilgesellschaft kamen schlicht nicht vor. Gleichzeitig vergeht jedoch kein Tag, an dem kritische Geister nicht kriminalisiert und mit Strafen belegt werden. Erst in dieser Woche wurden vier weitere ausländische Organisationen als „unerwünscht“ gelabelt – mit allen strafrechtlichen Konsequenzen für die Beteiligten.

Warum, liegt auf der Hand. Mitte September finden Dumawahlen statt, und da möchte die Kremlpartei „Einiges Russland“ eine satte Mehrheit einfahren – nicht zuletzt, um weiter an der Verfassung herumbasteln zu können.

Druck auf oppositionelle Medien: Die Journalistin Maria Zholobova nach einer Hausdurchsuchung Foto: dpa

Obwohl der Staat schon entsprechende Vorarbeit geleistet hat und im Herbst kaum noch ein*e Op­po­si­to­nel­le*r zur Wahl stehen dürfte, ist der Wahlsieg kein Selbstläufer. Die Zustimmungswerte zu „Einiges Russland“ gehen steil nach unten – wenn die Menschen im Herbst überhaupt an die Urnen gehen. Denn bei der Wahlbeteiligung, die bereits 2016 mit 47,8 Prozent einen postsowjetisch historischen Tiefstand erreichte, sehen Ex­per­t*in­nen noch Luft nach unten.

Auf die Frage, ob seine größten Errungenschaften in der Vergangenheit oder der Zukunft liegen, meinte Putin: Das Beste komme erst noch. Angesichts des Umstandes, dass er schon jetzt bis 2036 im Amt bleiben kann, dürfte das für viele eher wie eine Drohung klingen.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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8 Kommentare

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  • "Lange nichts Schlechtes hier über Putin gelesen."

    Was denn, den letzten Donath-Artikel verpasst?

  • "Obwohl mit Vakzinen beileibe nicht unterversorgt".

    Doch, Russland hat ausschließlich auf selbstentwickelte Impfstoffe gesetzt und ist nun unterversorgt. Weil bei Sputnik V, insbesondere bei der zweiten Komponente, die Skalierung der Herstellung auf industrielle Großmengen nicht gelingt.

    Der letze Absatz des Artikels enthält einen logischen Fehler: Putin sich nichts Besseres wünschen als eine noch niedrigere Wahlbeteiligung. Wahrscheinlich veranstaltet er deshalb derart abschreckende Aktionen wie die Fragestunde vom gestrigen Tag. Weileine niedrige Wahlbeteiligung den relativen Stimmenanteil von Einiges Russland, inklusive der gefälschten Wahlzettel, nach oben treiben wird.

  • Dieser Spracheuphemismus im Artikel macht mich wirklich fertig!

    In Russland finden keine "Dumawahlen" statt; es finden überhaupt keine Wahlen statt, niemals!



    Denn (freie) Wahlen ist ohne Demokratie nicht denkbar, und in Russland mag es vieles geben, aber Demokratie, oder demokratische Verhältnisse ganz bestimmt nicht.

    Vielleicht nutzen Sie zukünftig besser folgende Begriffe: Scheinwahl, Pseudowahl, Fake-Wahl, Wahlbetrugsveranstaltung, Propagandawahl, usw. usf.

    Vielen Dank

    • @Renate Schmitz:

      Schauen Sie sich mal einen Wahlzettel an. Zumindest hier kann man nichts aussetzen. Wie dann gezählt wird, ist wohl eine nationale Angelegenheit.

      • @Kappert Joachim:

        Genau.

        Erst den Wahlzettel anschauen. Dann recherchieren, welche PolitikerInnen dort nicht aufgeführt sind, weil Sie vom Regime rechtswidrig nicht zugelassen wurden.

        Wahlen in Russland werden (vereinfacht) in drei Schritten manipuliert:

        1) Man lässt echte Oppositionskandidaten gar nicht erst zu den Wahlen zu. Dafür hat die Präsidentenadministration eine Vielzahl Methoden entwickelt, die ich bei Interesse gern mitteile

        2) Werden während des Urnengangs massenweise Wahlzettel zugunsten von Einiges Russland gefälscht und in die Urnen geschmuggelt.

        3) werden missliebige Kandidaten, die den unter 1) beschriebenen "Filter" wider Erwarten doch überstanden haben, und die trotz Wahlfälschungen so viele Stimmen erhalten, dass sie Mandate erringen, einfach nach der Wahl aus ihren jeweiligen Gremien und Posten "entfernt". Indem man Ihnen erfundene Strafverfahren anhängt (so erging es seit der Kommunalwahl 2019 mehreren KPRF-Abgeordneten der Moskauer Stadtduma, oder 2020 dem Chabarovsker Gouverneur Sergej Furgal) oder die Mehrheit aus Abgeordneten von "Einiges Russland" spricht solchen Kandidaten einfach das "Misstrauen" aus und entzieht ihnen per Abstimmung das Mandat (so geschehen mit zahllosen 2019 gewählten unabhängigen Abgeordneten der Petersburger Kommunalparlamente)

        Das ist, wie gesagt eine vereinfachte Darstellung. Man verweigert der Opposition die Registrierung ihrer Parteien, man installiert mit verdeckter Finanzierung des Kreml zahllose "Spoilerparteien" die alle die 5-Hürde nicht schaffen und so Einiges Russland in die Hände spielen Die Opposition hat nicht nur keine Rede- oder Sendezeit in den staatlich kontrollierten Medien, sondern wird dort hemmungslos verleumdet, oder (das sollte sich eventuell mittlerweile rumgesprochen haben, man bringt Oppositionspolitiker einfach um (Nikita Isajew, Aleksej Nawalny, Wladimir Kara-Murza, Boris Nemzow)

    • @Renate Schmitz:

      Mich machen diejenigen fertig, die auf die alten Feindbilder etzen.

    • @Renate Schmitz:

      Sie scheinen sich ja exzellent in den russischen Verhältnissen auszukennen. Woher stammt denn Ihr Wissen um diese Scheindemokratie, wenn ich fragen darf?

  • Lange nichts Schlechtes hier über Putin gelesen. Ich dachte schon, dass die BILD das jetzt alleine machen muss.

    "Nach 1945 will die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft die Last der Geschichte nicht als Last der Erinnerung ertragen. Wie gehabt hält sie sich an einer imaginierten Bedrohung aus dem Osten schadlos. Man ist nicht, wie oft behauptet, unfähig, begangene Verbrechen und darin wurzelnde historische Schuld als solche wahrzunehmen, sondern unwillig. Einmal mit Drachenblut gesalbt, das hält für eine Epoche und mehr. Wer darin Traditionspflege erkennt, missversteht die Obsession der Anmaßung keineswegs. Sie wirkt nach, und sie wirkt weiter."

    aus:



    www.freitag.de/aut...den-kreml-im-blick