Psychotherapie in Deutschland: Was kostet die Couch?
Wenn Therapeutinnen nicht nur Privatpatientinnen und Selbstzahlerinnen behandeln wollen, brauchen sie einen Kassensitz. Nur: Dieser kostet viel Geld.
Eine lustige Kolumne könnte sich damit beschäftigen, was man in Deutschland alles kaufen kann. Platz eins diese Woche: Das Recht sich um das seelische Wohl anderer zu kümmern. Fast 50 Prozent der Patientinnen mit psychischen Erkrankungen mussten während der Coronapandemie über einen Monat auf ein Erstgespräch warten.
Ein solches Gespräch bedeutet aber noch lange nicht, dass sie einen Therapieplatz bekommen. Das Problem dabei ist nicht, dass es zu wenige Therapeutinnen gibt, sondern dass zu wenige das Recht haben, Kassenpatientinnen zu behandeln. Und wie das so ist mit knappen Gütern, wird dieses Recht auch noch privat versteigert. 40.000 Euro. So viel muss die Psychoanalytikerin Nicole Spitzer zahlen, wenn sie in Göttingen Patientinnen von gesetzlichen Krankenkassen behandeln will. Moderne Wegelagerei nennt sie es wütend. Rechtlich ist es eine Grauzone.
Kassensitze sind Lizenzen, die die Halterin dazu berechtigen, in einem bestimmten, von der örtlichen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) abgegrenzten Gebiet Kassenpatientinnen abzukassieren. Der gemeinsame Bundesausschuss der Ärztinnen entscheidet für ganz Deutschland, in welchen Bezirken wie viele Ärztinnen aus welchen Fachgebieten notwendig sind, um die Versorgung zu gewährleisten. Gemäß dieser Planung vergibt die KV dann Kassensitze, ursprünglich umsonst.
Nur: Sind die Kassensitze einmal vergeben, werden sie nur im Falle einer Überversorgung wieder einkassiert. So eine Überversorgung liegt bei Psychotherapeutinnen selbst in Großstädten fast nie vor. Das bedeutet, dass die Kassensitzhalterinnen, wenn sie aufhören zu arbeiten, ihren Sitz weitergeben. Offiziell geht der Kassensitz zurück an die KV und der Zulassungsausschuss – bestehend aus ungefähr 12 Ärztinnen und Krankenkassenvertreterinnen – teilt ihn neu zu. Faktisch kriegen die Halterinnen aber eine Liste mit Namen von möglichen Nachfolgerinnen, denen darauf spezialisierte Anwälte dann Angebote unterbreiten. Ein Kassensitz kostet in Berlin ungefähr 80.000, in Köln 60.000 Euro.
Der Verkauf ist illegal
Im Sozialgesetzbuch ist die Weitergabe von Kassensitzen geregelt. Unter anderen Ärztinnen ist es üblich, eine Ablöse zu zahlen, weil mit dem Sitz auch Praxis, Stammpatientinnen, Equipment und Personal weitergegeben werden. Bei Therapeutinnen sieht die Sache anders aus. Die wenigsten geben eigene Praxisräumlichkeiten weiter und Stammpatientinnen oder Personal schon mal sowieso nicht. Das heißt, die 80.000 Euro Ablöse sind einzig und allein für die Lizenz, Kassenpatientinnen abzurechnen. Diese Lizenz ist aber ein öffentliches Gut und ihr Verkauf ist illegal, wenn dabei nicht auch ein materieller Wert weitergegeben wird.
Auf change.org läuft im Moment eine Petition gegen die hohen Preise von therapeutischen Kassensitzen von jungen Therapeutinnen aus Köln. Die Preise führten zu einer sozialen Selektion unter den Therapeutinnen, von denen viele nach der teuren Ausbildung keine 60.000 Euro mehr auf der Tasche haben. Die zweite Forderung der Petition ist es den Besitz an Kassensitzen pro Therapeutin auf einen einzigen zu begrenzen. Bisher ist es möglich mehrere Kassensitze zu besitzen, um Angestellte auf ihnen arbeiten zu lassen.
In medizinischen Versorgungszentren werde jungen Therapeutinnen dann vorgeschrieben, die Patientinnen möglichst gewinnbringend zu behandeln, so die Petitionsführer. Nicole Spitzer geht noch weiter. Sie verlangt, den Verkauf von Kassensitzen endlich faktisch zu verbieten. Sie selbst lehnte schon mehrmals einen ab, weil sie nicht bereit ist, bei dem Geschacher mitzumachen. Wer sich gegen die Praxis zur Wehr setzt, muss aber mit Konsequenzen rechnen.
„Ich wurde auch schon von einer Verkäuferin angerufen, die mich angeschrien hat, ich würde sie um ihre Rente bringen“, erzählt Nicole Spitzer empört. „Schon als wir dazu aufriefen, einen fairen Preis zu beachten, gab es einen Shitstorm von Kollegen und deren Rechtsanwälten gegen die Kammer“, berichtet auch Pilar Isaac-Candeias aus dem Vorstand der Psychotherapeutenkammer Berlin.
Eine hohe Selektion
Wie alle ohne Kassensitz, kann Spitzer nur Privatpatientinnen und Selbstzahlerinnen behandeln: „In der Regel ist es wenig problematisch, die Praxis vollzukriegen. Man hat dann aber eine hohe Selektion: Andere soziale Schichten als Ärzte und Lehrer, die das aber auch dringend brauchen, sehe ich dann nicht mehr.“ Auch in die andere Richtung wird natürlich selektiert: „Es ist zu befürchten, dass auch aufseiten der Therapeuten viele Teile der Bevölkerung in ihrer Lebenswirklichkeit gar nicht mehr repräsentiert sind.“
Die generelle Unterversorgung treibt auch die Kassensitz-Preise für die Therapeutinnen in die Höhe. Es gibt weniger Sitze als Therapeutinnen. Aber auch weniger Sitze als Patientinnen. Das zeigte zuletzt ein Gutachten der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München von 2018. 1.157 neue Kassensitze waren darin mindestens empfohlen. Im Mai 2019 kamen, nach Verhandlungen zwischen Vertreterinnen der Krankenkassen und der Ärztinnen, dann 776 neue Sitze dazu. Dabei sind keineswegs alle Ärztinnen überzeugt, dass es zu wenige Therapieplätze gebe. „Nein, zu wenige gibt es nicht. Die Gruppe der Psychotherapeuten ist die am stärksten gewachsene Fachgruppe überhaupt“, meint Roland Stahl, Pressesprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Die langen Wartezeiten lägen vor allem an ineffizienter Allokation.
Das Problem ist, dass die KBV nur die Ärztinnen vertritt, die schon einen Kassensitz haben. Das heißt, durch die Praxis des Verkaufs hat eben jener Interessensverein, der im gemeinsamen Bundesausschuss die Ärztinnen und Patientinnen gegen die Krankenkassen vertreten soll, einen ökonomischen Anreiz, die Anzahl der Kassensitze gering zu halten. Denn je weniger Kassensitze es gibt, desto mehr wert sind die bereits vergebenen Kassensitze der Mitglieder der KBV. Nicole Spitzer fordert deshalb, die Deckelung der Kassensitze aufzuheben. Damit würde die Unterversorgung und ganz nebenbei auch der Verkauf von Kassensitzen endlich ein Ende finden.
Ärztinnen und Patientinnen würden sich dann auf dem freien Markt finden. Ließe man die Kassensitze unbegrenzt, würden sich die psychischen Erkrankungen schließlich nicht vermehren. Das genau scheint aber die Sorge des Verbands der Krankenkassen zu sein, dessen Pressereferent, Helge Dickau, betont: „In einer Marktwirtschaft generiert ein Angebot auch eine Nachfrage. Solche Marktmechanismen wollen wir im Gesundheitswesen nicht.“ Sowohl der Zusammenschluss der KVs als auch der der Krankenkassen weisen darauf hin, dass ohne Deckelung die Unterversorgung in den strukturschwachen Gebieten noch zunehmen würde. Wer wirklich an den Marktmechanismus glaubt, kann dieses Argument freilich nicht gelten lassen. Denn das Angebot würde die Therapeutinnen schließlich doch in die strukturschwachen Gebiete ziehen, wenn in den Großstädten die Nachfrage gedeckt wäre.
Es gibt Möglichkeiten
Isaac-Candeias von der Therapeutenkammer fürchtet, die Krankenkassen würden als Reaktion auf die plötzlich ungedeckelte Nachfrage die Therapiezeiten verkürzen und die Versorgung wäre dann für die, die es am nötigsten brauchen, nicht mehr umfangreich genug. „Die haben ja eine schwere Angst davor, dass ‚der Psycho-Kram‘ ihnen aus dem Ruder läuft.“
Um den Verkauf zu stoppen, gibt es aber noch andere Möglichkeiten. Zum Beispiel könnte man das Rückzugsrecht einschränken. Einmal ausgeschrieben, wird der Kassensitz auch vergeben. Das würde den Hebel der Halterinnen gegenüber den potenziellen Käuferinnen verkürzen. Auch denkbar ist eine „weiche“ Lösung, meint Isaac-Candeias. Das heißt zum Beispiel, eine kollegiale Absprache zu fairen Preisen.
Auf jeden Fall muss jetzt gehandelt werden. „Eigentlich schon vor vier Jahren“ sagt Spitzer, denn je mehr Kolleginnen für ihre Kassensitze schon gezahlt haben, desto schwieriger würde es diese Praxis abzuschaffen. Die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen, erklärt zu mindestens die bereits festgestellte Unterversorgung solle möglichst bald beseitigt werden. Ein solcher Schritt würde auch die Preislage am Kassensitzmarkt wieder entspannen. Aber ein Markt wird es bleiben. „Es ist ungerecht, aber wir leben im Kapitalismus …“, kommentiert Isaac-Candeias trocken.
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