Psychiatrie-Chefarzt über Kündigung: „Ich habe das Ausmaß des Widerstands in Bremen unterschätzt“
Martin Zinkler wurde vor drei Jahren nach Bremen geholt, um die Psychiatriereform wieder in Gang zu bringen. Jetzt verlor er den politischen Rückhalt.
taz: Herr Zinkler, Sie sind als erklärter Gegner von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie nach Bremen geholt worden. Dafür wurden Sie oft angegriffen und haben zuletzt den politischen Rückhalt verloren.
Martin Zinkler: Wenn ich eine ambulante Psychiatrie mache wie es die Bremer Bürgerschaft 2013 beschlossen hat, werden weniger Leute in der Klinik eingesperrt. Dann beschweren sich Polizisten, rechtliche Betreuer oder Richter. Dann fragt die Lokalzeitung: „Ist die geschlossene Psychiatrie noch sicher?“ Das ist anfangs überall so. Dahinter stecken alte Ängste vor den gefährlichen Menschen mit psychischen Erkrankungen.
taz: Das sind nicht nur Ängste. Es gibt Übergriffe, innerhalb und außerhalb der Psychiatrie.
Zinkler: Innerhalb der Psychiatrie haben die immer dieselbe Ursache: Menschen werden gegen ihren Willen eingesperrt.
59, ist Psychiater und Psychotherapeut. Von Juni 2021 bis zum 20. Dezember 2024 hat er die Psychiatrie am kommunalen Klinikum Bremen-Ost geleitet. Zuvor war er in derselben Funktion in Heidenheim in Baden-Württemberg tätig.
taz: Der Weser Kurier hat suggeriert, die Übergriffe außerhalb der Klinik hätten seit Ihrem Dienstantritt zugenommen.
Zinkler: Ich kenne keine Zahl, die das belegt. In den Artikeln wurde nur eine Anzahl der Polizeieinsätze genannt. Aber das ist nicht dasselbe wie Übergriffe. Die Zahl der Aufnahmen in die Notaufnahmen aufgrund von Polizeieinsätzen ist gesunken.
taz: Welchen Fehler haben Sie gemacht?
Zinkler: Ich hätte von Anfang an die Widersprüche klar benennen müssen: „Wenn wir die Rechte der Betroffenen stärken, wird es Protest geben.“
taz: Haben Sie das Ausmaß des Widerstands in Bremen unterschätzt?
Zinkler: Ja. Es gab keine Geschlossenheit über die Ausrichtung der psychiatrischen Dienste in Bremen. Unterschiedliche Auffassungen darüber waren der Grund, warum wir das Arbeitsverhältnis aufgelöst haben.
taz: Worin bestehen die Unterschiede?
Zinkler: Es reicht nicht zu sagen, wir wollen eine regionale, ambulante, nichtdiskriminierende Psychiatrie. Man muss die andere Seite auch vertreten können.
taz: Und das hat die Bremer Gesundheitssenatorin nicht getan?
Zinkler: Nein, am Ende nicht.
taz: Was müsste in Bremen geschehen, um dem Ziel einer Psychiatrie, wie sie die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, näherzukommen?
Zinkler: Man müsste weitere Betten am zentralen Standort Bremen Ost abbauen und sie in die Regionen verlagern. Bisher gibt es das nur in Bremen Nord. Die Bremer Psychiatrie ist momentan eine Chimäre. Auf der einen Seite gibt es eine ambulante dezentrale Versorgung wie zum Beispiel im Bremer Süden, wo man denkt, wunderbar, genau so muss eine gemeindenahe Psychiatrie sein. Auf der anderen Seite sind wir eine ziemlich traditionelle psychiatrische Klinik mit geschlossenen Stationen, mit Regeln, mit institutionellen Bedingungen, die gerade diesen personenzentrierten Ansatz, den wir eigentlich verfolgen sollten, torpedieren.
taz: Was ist das Problem mit traditionellen psychiatrischen Kliniken?
Zinkler: Solche Anstalten sind entstanden, um die Bevölkerung vor den gefährlichen psychisch Kranken zu schützen – und nicht um diesen zu helfen. Das geht auf die preußischen Polizeigesetze zurück, also auf eine Zeit, in der es die Psychiatrie noch gar nicht gab. Nur hat das nie funktioniert. Stattdessen haben sich Menschen vom psychiatrischen System abgewendet, weil sie ihm nicht vertrauen konnten – wegen der Gefahr eingesperrt zu sein. Hinter dem wohlmeinenden Gesicht der Hilfe stand immer das der Kontrolle und der Unterdrückung.
taz: Sie haben bis zum heutigen Tag eine solche Anstalt geleitet. Konnten Sie die Zwangsbehandlungen reduzieren?
Zinkler: Zwischen 2019 und 2023 sank die Zahl der Fixierungen um 60 Prozent, die der Zwangsmedikation um 70 Prozent.
taz: Warum ist das gut?
Zinkler: Es gibt keinen wissenschaftlich fundierten Hinweis darauf, dass Zwang helfen würde. Es ist aber gut bewiesen, dass Zwang schadet, seelisch und körperlich verletzt, bis hin zu Todesfällen. Zwangsbehandlungen führen außerdem zum Drehtüreffekt. Menschen, die im Krankenhaus gegen ihren Willen Medikamente bekommen, setzen sie sofort ab, wenn sie entlassen werden.
taz: Wann nehmen Menschen freiwillig Medikamente?
Zinkler: Wenn sie Vertrauen haben. Und das gelingt besser zu Hause oder in ambulanten Einrichtungen. Dort, wo die Psychiatrie die stationären Behandlungsplätze drastisch reduziert hat, wie in Lille oder Triest, hat die Psychiatrie ihren Schrecken verloren. Dort braucht es Zwang nur noch sehr, sehr selten.
taz: Warum ging das in Triest und hier nicht?
Zinkler: Das war eine andere Zeit in Triest, zwischen 1971 und 1978, da gab es in der Gesellschaft eine Bereitschaft, solche Reformen durchzuführen. Heute ist Psychiatrie kein Thema.
taz: Ich finde schon. Es wird viel über das Für und Wider von Zwang gesprochen. Und psychische Erkrankungen sind medial sehr präsent.
Zinkler: Ja, da gibt es eine emanzipatorische Bewegung, aber die kommt von den Leuten, die eher wenig Probleme haben.
taz: Und umso mehr Hilfe bekommen?
Zinkler: In Ländern mit einem staatlichen Gesundheitssystem werden die Ressourcen solidarischer verteilt. Wer viel braucht, bekommt dort viel, also die Schwerkranken. Hier bekommen die am meisten, die am lautesten rufen. Die anderen können das entweder nicht oder tun es nicht, weil sie kein Vertrauen ins System haben.
taz: Haben Sie ein Beispiel?
Zinkler: Es landen sehr wenige Leute mit Psychosen bei Psychotherapeuten. Das ist weder mit der Häufigkeit dieser Störungen in Einklang zu bringen, noch mit den medizinischen Leitlinien.
taz: Ein Argument für mehr Zwang ist, dass die Agressivität psychisch Kranker zugenommen hat.
Zinkler: Das stimmt ein Stück weit. Vor allem sind weltweit in den meisten Ländern die Unterschiede zwischen Arm und Reich deutlich größer geworden.
taz: Armut macht psychisch krank?
Zinkler: Nein. Die Forschung ist ziemlich eindeutig: Krank machen die Unterschiede, sie bedingen auch die Raten von Suchtmittelmissbrauch.
taz: Warum ist das so?
Zinkler: Meine Vermutung ist, dass die einen krank werden aufgrund der Unzufriedenheit und Machtlosigkeit in ihrer marginalisierten Lage. Die anderen haben Angst davor, dass ihnen etwas genommen wird. Angst macht krank.
taz: Was haben Sie in den dreieinhalb Jahren in Bremen erreicht?
Zinkler: Wir haben fünf gemeindepsychiatrische Zentren geschaffen, mit jeweils dem Sozialpsychiatrischen Dienst, einer Ambulanz, der Möglichkeit des Home Treatments und einer Tagesklinik vor Ort. Und wir haben die finanziellen Voraussetzungen für eine regionale ambulante Versorgung aus der Klinik heraus geschaffen, indem wir Verträge mit allen Kassen, auch für Privatversicherte, abgeschlossen haben. Solche Regionalbudgets, die eine Versorgung nach dem individuellen Bedarf ermöglichen, gibt es so an nur 20 Orten in Deutschland, Bremen ist die einzige Großstadt.
taz: Ich habe gehört, dass die Zentren fast nur Menschen aufnehmen können, die vorher stationär untergebracht waren.
Zinkler: Das stimmt nicht. Die Hälfte der ambulanten Aufnahmen ins Home Treatment kommen von der Station, die andere Hälfte sind Notfälle.
taz: Aber es scheint Menschen zu geben, die Mitarbeitende für Notfälle halten und die sie vertrösten müssen.
Zinkler: Wer nicht so schwer erkrankt ist, dass eine stationäre Aufnahme droht, kann nicht von uns behandelt werden. Aber alle sozialpsychiatrischen Dienste haben offene Sprechstunden, wo man Informationen über Hilfsangebote bekommt und eine Beratung. Aber keine 20-stündige Psychotherapie, die sofort beginnt.
taz: Sind Sie eigentlich traurig, dass Sie gehen?
Zinkler: Ja, und wütend!
taz: Was bleibt?
Zinkler: Wunderbare Begegnungen mit Mitarbeitenden und Menschen, die hier bei uns in der Klinik waren.
taz: Haben Sie die als Chefarzt so oft erlebt?
Zinkler: Ja. Etwas Besonderes waren die Wochenenddienste. Bei den Visiten vormittags habe ich die Leute gesprochen, die nachts gekommen sind, alle mit der Polizei. Das erste, was ich denen gesagt habe, war: „Es tut mir leid, dass Sie hier mit der Polizei reingebracht wurden.“
taz: Und das zweite?
Zinkler: „Was wünschen Sie sich von der Behandlung?“ Dann sagen natürlich viele: „Ich will gar nichts von Ihnen, ich will hier raus.“ Und dann habe ich gesagt: „Dann sollten wir uns darüber unterhalten, wie Sie möglichst schnell wieder entlassen werden können.“
taz: Warum ist das wichtig?
Zinkler: Zum einen darf man nicht die Freiheit entziehen, ohne einen Weg zurück zu zeigen. Und man muss anerkennen, dass den Menschen etwas Schlimmes passiert ist.
taz: Die Menschen sind nicht grundlos zwangseingewiesen worden…
Zinkler: Sie wurden als Gefährdung wahrgenommen. Aber es ist nichts Schlimmeres passiert. Sonst wären sie in der Forensik gelandet.
taz: Der geschlossenen Unterbringung für Straftäter.
Zinkler: Das wird oft mit der geschlossenen Akutstation verwechselt. Auch in Medien.
taz: Warum ist die Anerkennung des Erlebten wichtig?
Zinkler: Nur so öffnet sich die Tür zu einem Gespräch. An dem Punkt beginnt die psychiatrische Arbeit.
taz: Setzen Sie die an anderer Stelle fort?
Zinkler: Ich bleibe in Bremen. Aber ich weiß noch nicht, was ich beruflich machen werde.
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