Prozess zum Nazi-Anschlag von Halle: Der Schmerz der Opfer
Im Prozess um den Anschlag in Halle offenbart der Vater des erschossenen Kevin S., wie die Tat sein Leben veränderte. Eine Aussage führt zu Applaus.
Der Mann, der seinem Sohn Kevin S. das Leben nahm, sitzt Karsten L. am Dienstag im Landgericht Magdeburg schräg gegenüber: Stephan B., angeklagt wegen zweifachen Mordes und 68-fachen Mordversuchs. Am 9. Oktober 2019 hatte B. versucht, die Synagoge in Halle zu stürmen, übertrug die Tat ins Internet. Der 28-Jährige scheiterte, aber er erschoss die Passantin Jana L. Dann fuhr er zum nahegelegenen „Kiezdöner“, um Migranten zu ermorden. Dort ermordete er Kevin S., der dort gerade Mittag aß.
Der Anschlag ist bis heute ein Fanal, seit Juli wird darüber in Magdeburg verhandelt. Am Dienstag ist nun Karsten L. Zeuge. Es wird der einzige Auftritt eines Hinterbliebenen der beiden Mordopfer im Prozess. Auch die Mutter von Jana L. nimmt als Nebenklägerin am Prozess teil, sie aber bat laut Gericht, keine Aussage machen zu müssen. Karsten L. jedoch will reden.
Der Gerüstbauer berichtet, wie schon sein erster Sohn starb, kurz nach der Geburt. Bei seinem zweiten, Kevin, wurde eine geistige und körperliche Behinderung diagnostiziert. Aber Kevin habe gekämpft. Er habe die Förderschule geschafft, Praktika bei einer Malerfirma in Halle absolviert und dort schließlich eine Ausbildung begonnen. „Sein Traumberuf. Er ist richtig aufgeblüht.“ Und Kevin wurde leidenschaftlicher Fan des Halleschen FC, baute sich dort einen Freundeskreis auf, reiste zu Spielen, heftete jede Eintrittskarte ab. „Er hat sich das selbst aufgebaut“, sagt Karsten L. „Er war megastolz.“ Und der Vater war es auch, daran lässt der Zeugenauftritt keinen Zweifel.
Ein Leben – zerstört
Dann aber kam der 9. Oktober 2019, neun Tage nach Kevins Ausbildungsbeginn. Er habe am Vormittag noch mit seinem Sohn telefoniert, berichtet der Vater. Dann hörte er vom Anschlag in Halle, versuchte seinen Sohn zu erreichen, die Mutter tat es auch. Ohne Erfolg. „Das war nicht normal. Ich hatte gehofft, dass er sein Handy verloren hat. Aber das war unwahrscheinlich.“ Dann bekam er das Video von der Tat. Sah, wie sich sein Sohn noch hinter einem Kühlschrank versteckte, wie er rief: „Bitte nicht!“. Der 20-Jährige hatte keine Chance.
Für Karsten L. ist das Leben seitdem zerstört. Kevins Mutter und er seien bis heute in psychologischer Behandlung, teils stationär, berichtet er. Drei Mal habe er gedacht, es gehe nicht mehr weiter, rief die Polizei. „Es ist schwer, wir brauchen extrem Hilfe.“ Stephan B. starrt den kämpfenden Vater an, regungslos. Ein Opferanwalt weist die Richterin darauf hin, dass der Angeklagte mit den Augen rollte. Der verneint. Zu Prozessbeginn hatte B. bedauert, dass er Kevin S. tötete, er habe ihn mit einem Muslim verwechselt. Mehr Reue zeigt er im Prozess nicht.
Auch das Leben von Ismet und Rifat Tekin ist seit dem Anschlag nicht mehr dasselbe. Seit zwölf und fünf Jahren wohnen die Brüder in Halle, arbeiten dort im Kiezdöner, inzwischen als Besitzer. Nun sind auch sie Zeugen im Prozess. Rifat stand beim Angriff hinterm Tresen.
Er habe erst gedacht, dass ein Soldat in den Laden komme, schildert er. Dann seien Schüsse gefallen, er habe sich hinterm Tresen versteckt. Als ihm der Täter den Rücken zuwendete, sei er aus dem Laden gerannt. Ismet hatte kurz zuvor den Laden verlassen, auch an ihm schoss eine Kugel Bürgersteig vorbei. Er versteckte sich hinter Autos. Als Stephan flüchtete und er in den Laden kam, war Kevin S. bereits tot.
„Wir wollen standhaft bleiben“
Er leide bis heute unter Schlafstörungen, sagt Rifat Tekin. Ismet ergänzt, dass sein Bruder früher alle zum Lachen brachte, das sei vorbei. „Es schmerzt mich, ihn so zu sehen.“ Auch seiner Mutter in der Türkei erzähle er seit Monaten Lügen, damit diese sich nicht sorgt.
Er wolle eigentlich gar nicht mehr in den Laden, sagt Rifat Tekin. Aber sein Bruder möchte diesen weiterbetreiben. „Deshalb unterstütze ich ihn. Wir wollen standhaft bleiben, wir wollen hierbleiben, wir wollen uns für dieses Land einsetzen.“ Auch Ismet Tekin will den Attentäter nicht siegen lassen: „Wir werden nicht weggehen und auch unseren Laden nicht aufgeben.“
Im Kiezdöner hängen bis heute Fotos der Ermordeten und Trikots des Halleschen FC. Der Imbiss sei nun auch eine Gedenkstätte, sagt Ismet Tekin vor dem Prozesstag. Und die Umsätze seien eingebrochen. Immer weniger Gäste kommen, nach dem Corona-Ausbruch musste der Imbiss für drei Wochen ganz schließen. Auch die von PolitikerInnen versprochene Unterstützung sei ausgeblieben. „Es ist sehr schwierig.“
Inzwischen läuft eine Spendensammlung für den Kiezdöner – initiiert von der Jüdischen Studierendenunion und einer Gruppe junger JüdInnen, die beim Attentat in der Synagoge waren und dort Jom Kippur feierten. „Wir glauben an eine multikulturelle Gesellschaft in diesem Land“, heißt es in ihrem Aufruf.
Eine letzte Botschaft
Jeremy Borovitz, einer der Gläubigen aus der Synagoge, appellierte: „Bitte spendet“, Ismet Tekin sei „ein außerordentlich anständiger Mann in einer verrückt gewordenen Welt“. Gut 6.400 Euro kamen bisher zusammen. Ismet Tekin ist gerührt von der Solidarität. Er wolle das Geld nutzen, um den Imbiss um ein Frühstückscafé zu erweitern, sagt er. Vielleicht gehe es damit wieder aufwärts.
Fast jeden Verhandlungstag reiste Ismet Tekin bisher zum Prozess. Am Dienstag spricht er den Angeklagten direkt an, nennt ihn einen „Feigling“. Stephan B. lächelt. „Niemand hat es verdient, auf so eine Art und Weise zu sterben. Können Sie sich vorstellen, wie viel Kraft es eine Mutter kostet, ein Kind großziehen? Was für einen Schmerz es bedeutet, wenn es auf diese Weise das Leben verliert?“
Er könne auch nicht glauben, dass niemand von den Planungen des Attentäters mitbekam, sagt Ismet Tekin. Obwohl er so viel im Internet chattete und zu Hause bei seinen Eltern die Waffen baute. „Das ist keine Tat eines Einzelnen.“ Er verstehe auch den Hass nicht. Alle Menschen seien Ausländer irgendwo auf der Welt. Der Verteidiger von Stephan B. interveniert, hält die Ausführung für zu ausschweifend, aber die Richterin lässt Ismet Tekin weiter reden.
Und der verkündet Stephan B. eine letzte Botschaft. „Sie haben nicht gewonnen. Sie haben auf ganzer Linie versagt. Entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und Liebe. Wir werden nicht weggehen. Und wissen Sie was? Ich werde Vater, ich bekomme ein Kind. Und ich werde das Beste geben, es hier großzuziehen.“ Im Saal brandet Applaus auf. Die Richterin lässt es gewähren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“