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Prozess zum Mord an Walter Lübcke„Hier wurde mein Leben zerstört“

Stephan E. soll nicht nur Walter Lübcke ermordet, sondern auch einen Geflüchteten niedergestochen haben. Am Donnerstag sagte dieser vor Gericht aus.

Stephan E. mit Anwälten am Frankfurter Oberlandesgericht am Donnerstag Foto: Boris Roessler/dpa

Frankfurt am Main taz | Ahmed I. schildert, wie er damals, an diesem regnerischen Januarabend vor fast fünf Jahren, von seiner Asylunterkunft in Kassel-Lohfelden zur Tankstelle lief. Er wollte Zigaretten holen, Kopfhörer in den Ohren, Kapuze auf. Als plötzlich ein Radfahrer von hinten kam und er einen Schlag im Rücken spürte. Er sei zu Boden gegangen, habe erst nur Wärme gespürt, dann das Blut bemerkt und die Schmerzen.

Er habe aufstehen wollen, aber es ging nicht. Weil niemand für Hilfe in der Nähe war, kroch er auf die Straße. Autos fuhren vorbei, dann hielt doch eines, ein Mann brachte ihn auf den Bürgersteig. „Ich dachte, ich werde sterben. Ich hatte so starke Schmerzen.“ Die herbeigerufenen Ärzte brachten ihn schließlich ins Krankenhaus.

Die Geschichte erzählt Ahmed I., akkurat gestutzter Bart, gegelter Seitenscheitel, dunkelblaues Jackett, am Donnerstag im Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Ein attraktiver Mann, der lächelnd Zuschauern winkt, die ihn begleiten und vor dem Gericht eine Kundgebung für ihn organisiert haben. Verhandelt wird hier der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vom Juni 2019. Angeklagt ist dafür Stephan E., ein 47-jähriger Kasseler Rechtsextremist. Und als möglicher Helfer sein früherer Kumpel Markus H.

Nun aber wendet sich das Gericht einer zweiten Tat zu: der Messerattacke auf Ahmed I. am 6. Januar 2016. Der Radfahrer soll auch Stephan E. gewesen sein. Die Ausführungen des Irakers verfolgt er regungslos, schaut ihn nicht mal an. Während Stephan E. den Mord an Lübcke gestand, bestreitet er den Messerangriff – und schweigt ansonsten dazu. Aber es gibt Indizien.

DNA-Spuren auf Messer

Stephan E. wohnt in Tatortnähe, fuhr dort mit seinem Fahrrad regelmäßig zur Arbeit entlang. Die Unterkunft, in der Ahmed I. lebte, ist genau die, über die Walter Lübcke ein Vierteljahr zuvor auf einer Bürgerversammlung informierte – und die Stephan E. nach eigener Aussage derart in Rage brachte, dass er Lübcke vier Jahre später erschoss.

Schwerwiegender noch: Auf einem Messer in E.s Keller fanden Ermittler eine DNA-Spur, die in einigen Teilen zu Ahmed I. passt. Und der Rechtsextremist selbst berichtete den Ermittlern, wie er Anfang 2016, nach Berichten über die Kölner Silvesternacht, aufgebracht war und einem Migranten zugerufen habe, man müsse ihm den Hals aufschneiden.

Auch Ahmed I., der im Prozess Nebenkläger ist, hatte früh den Verdacht, ein Rechtsextremist könnte hinter dem Angriff auf ihn stecken. Noch im Krankenhaus hatte er den Ermittlern davon berichtet. In der Asylunterkunft habe er mit niemandem Streit gehabt, berichtet er. Aber man habe dort von aufgebrachten Rechten nach der Kölner Silvesternacht gehört.

Ahmed I. war damals erst wenige Wochen in Kassel, geflohen vor dem IS aus Mossul, wo er als Musiker auftrat. „Ich habe mein Land verlassen, um Schutz zu suchen. Aber hier wurde mein Leben zerstört“, klagt er nun. Der 27-Jährige erlitt damals eine viereinhalb Zentimeter tiefe Stichwunde, sein Rückenmark und drei Brustwirbel wurden verletzt, zwei Nervenstränge durchtrennt. Beide Beine waren anfangs gelähmt. Zwei Monate lag er im Krankenhaus.

Schmerzen hören bis heute nicht auf

Die Ermittler suchten anfangs erfolglos nach dem Täter, kontrollierten auch Rechtsextreme, sogar Stephan E. Sie ließen sich sein Fahrrad zeigen, dann zogen sie ab. Die Ermittlungen versandeten. Erst nach dem Mord an Walter Lübcke kamen sie wieder ins Rollen – durch Ahmed I. selbst. Er schrieb mit Hilfe der Opferberatungsstelle Response die Polizei an, ob nicht Stephan E. auch der Messerangreifer gewesen sein könnte. Wieder rückten die Ermittler bei dem Rechtsextremen an – und fanden nun das Messer.

Vor Gericht schildert Ahmed I., wie er bis heute in Behandlung sei, Schmerzen im Rücken habe, ein Bein sei taub. Er nehme täglich Tabletten, könne manchmal bis in die Morgenstunden nicht schlafen, fühle sich verfolgt, sei arbeitsunfähig. Manchmal frage er sich, wie lange er so noch leben könne. „Ich bin ein junger Mann, kein 50-Jähriger.“

Während Stephan E. auch hier keine Regung zeigt, grinst der Mitangeklagte Markus H. bei den Ausführungen. Er solle das lassen, ermahnt ihn Oberstaatsanwalt Dieter Killmer. Ahmed I. sagt, entweder Markus H. höre mit dem Grinsen auf, oder einer der beiden müsse den Saal verlassen. Auch der Anwalt der Familie Lübcke spricht von einem „Skandal“. Richter Thomas Sagebiel verordnet eine Pause. Und Markus H. grinst auch da weiter.

Der Rechtsextreme fühlt sich sicher im Prozess. Anfang Oktober hatte das Gericht seinen Haftbefehl aufgehoben. Dass er, wie angeklagt, Stephan E. zum Mord an Lübcke angestachelt habe, sei bisher nicht erwiesen, eine Mittäterschaft am Tatort noch viel weniger. Der Senat drückt seitdem aufs Tempo, will nun bereits am 1. Dezember sein Urteil sprechen.

Ob Stephan E. für den Messerangriff auf Ahmed I. verurteilt wird, ist ungewiss. Als der Iraker am Donnerstag den Radfahrer beschreiben soll, kann er sich nur bruchstückhaft erinnern. Auch ein Sachverständiger hatte im Prozess ausgesagt, dass die DNA-Spur am Messer von Stephan E. durchaus von Ahmed I. stammen könne – gänzlich sicher aber sei das nicht. Der Iraker hofft dennoch auf eine doppelte Verurteilung von Stephan E. Auch, damit er irgendwann vielleicht doch noch abschließen kann.

Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisememitischer Gewalt sammelt Spenden für Ahmed I., um die materiellen Folgen der Tat aufzufangen.

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