Prozess gegen ukrainischen Regisseur: Dreiminütige Rede aus dem Käfig
Dem inhaftierten ukrainischen Filmemacher Oleg Sentsov droht ein Schauprozess in Moskau. Der internationale Protest dagegen wächst.
„Ich kenne Oleg nicht persönlich“, sagte Wim Wenders vor wenigen Tagen in der Berliner Brotfabrik bei einer Solidaritätsveranstaltung der Europäischen Filmakademie (EFA), „aber ich habe seinen Film gesehen. Ein Film, aus Nichts mit Nichts gemacht. Schon allein deshalb kann man den nur gut finden.“
Der Film: „Gaamer“, die halbdokumentarische Coming-of-Age-Geschichte des jungen Ukrainers Alex, der sein Leben vor dem Computerbildschirm verbringt und „Quake“ spielt. Der Regisseur: Oleg Sentsov, geboren in Simferopol, Wirtschaftsstudium in Kiew, Filmkurse in Moskau. Mit seinem nachdenklich-phlegmatischen und autobiografisch inspirierten Regiedebüt, das 2012 in Rotterdam Premiere hatte, fiel er im Pool der Nachwuchsfilmer auf.
Die einschlägigen Ost-Mittel-Europa-Filmfestivals hatten ihn zu Gast, bei goEast in Wiesbaden lief „Gaamer“ im Wettbewerb, Connecting Cottbus lud Sentsov zu einem Pitching. Bereits sein zweites Projekt, „Rhino“, wurde unter anderem vom Medienboard Berlin-Brandenburg gefördert, musste aber – „komplett durchfinanziert und kurz vor Drehbeginn“, wie Ko-Produzent Alexander Ris den etwa 60 Zuschauern in der Brotfabrik erzählte – auf Eis gelegt werden.
Denn am 10. Mai 2014 wurde der 38 Jahre alte „Automaidan“-Aktivist in seinem Haus auf der Krim festgenommen, vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB. Vorgeworfen wird ihm, Kopf einer terroristischen Gruppierung zu sein, die während der „Tag-des-Sieges“-Feiern in Jalta, Simferopol und Sevastopol Anschläge geplant haben solle.
Misshandelt und gefoltert
Seither befindet sich Sentsov in Untersuchungshaft, mittlerweile in der neuerdings für seinen Wohnort zuständigen Hauptstadt Moskau, im berüchtigten Gefängnis Lefortovo. Die direkte Kontaktaufnahme, sagt sein russischer Anwalt Dmitri Dinze (ehemals Pussy Riot-Verteidiger), sei schwierig. Sentsov sei bedroht, körperlich misshandelt und gefoltert worden. Sein bulgarischer Anwalt zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Am 7. Juli fand eine gerichtliche Anhörung statt, einzig der unabhängige TV-Sender Doschd übertrug die knapp dreiminütige Rede Sentsovs aus dem Gefängniskäfig. Er dementierte alle Anschuldigungen. Nie sei er Mitglied einer extremistischen Gruppierung gewesen, den 9. Mai erachte er als wichtigen Feiertag. Dennoch sei er gegen die russische Annexion der Krim: „Ich bin kein Leibeigener und kann daher auch nicht gemeinsam mit Grund und Boden von einem Eigentümer zu einem anderen übergeben werden.“
Die russischen Medien hüllten sich, wie der FSB, zunächst in Schweigen. Ende Mai berichtete NTV nicht ohne Häme, dass Sentsov nun „nicht mehr auf dem roten Teppich, sondern im FSB-Kabinett posieren“ müsse, Anfang Juni brachten Rossija 1 und Rossija 24 in der Sendung „Nachrichten der Woche“ ein Dossier, das Sentsov zunächst diffamiert („er war Computerklubbesitzer, drehte einen typischen Autorenfilm und begann sich von da an ,Regisseur‘ zu nennen“), ihn aufgrund dieser Regiekenntnisse aber zum Chefdirigenten einer rechtsradikalen Untergrundorganisation stempelt und noch vor Prozessbeginn unter Berufung auf den FSB und die Nachrichtenagentur RIA Nowosti als Mitglied des „Rechten Sektors“ entlarvt.
Dazwischen geschnitten sind Interviews mit zwei Mitangeklagten, deren eigener Läuterungsprozess über die Anzeige Sentsovs läuft („er wies gern Rollen zu“), sowie verwaschene Nachtsichtkamera-Bilder, die zeigen sollen, wie die Angeklagten „auf frischer Tat“ ertappt wurden. Dass Sentsov dabei gar nicht zu sehen ist, geht unter.
Einschüchterungstaktik
Seit sein Fall nun immer mehr Staub aufwirbelt, können sich die russischen Organe eine Einschüchterungstaktik nicht mehr leisten. Der ukrainische, in Berlin lebende Regisseur Sergei Loznitsa, der mit dem Dokumentarfilm „Maidan“ im Mai in Cannes Aufsehen erregte und die Pressekonferenz mit einem Appell für seinen Kollegen einleitete, ist sogar überzeugt, dass die vielen auf den politischen Häftling gerichteten Augen für die russische Staatsmacht unangenehm sind.
„Hätten die FSB-Leute von Anfang an gewusst, wen sie sich da holen, hätten sie vielleicht lieber die Finger davon gelassen. Mit jedem Tag, den er sitzt, werden sein Renommee und ,Tauschwert‘ größer. Oleg ist zu einer Figur in einem komplexen Schachspiel geworden. Das schützt ihn zurzeit vor neuerlicher Gewalt.“
Die Protestwelle gegen die Inhaftierung des Ukrainers hat mittlerweile weite Kreise gezogen, und sie vereint viele Kritiker von Putins Politik, auch solche mit russischem Pass. Gemeinsam mit ukrainischen Kulturschaffenden rief die russische Filmszene zur Unterstützung Sentsovs auf. Dass dabei neben als oppositionell bekannten Regisseuren wie etwa Witali Manski auch großrussische Kaliber wie Sergei Michalkow für eine Freilassung eingetreten sind und Filmkritikerinnen als Mitglieder der Öffentlichen Beobachtungskommission über Facebook laufend berichten, mag Hoffnung stiften in einem Fall, der ansonsten nur ein weiteres Indiz der allgemeinen Ohnmacht vor einem Regime ist, das tut, was es will.
Briefe an Putin und den FSB-Chef
Die EFA schrieb – unterzeichnet von Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Pedro Almodóvar, Bela Tarr, Agnieszka Holland, Mike Leigh, Ken Loach und co. – Briefe an Putin (keine Antwort), den FSB-Chef und die Oberstaatsanwaltschaft („Beweise für Verbrechen terroristischer Natur“), das Russische Kulturministerium („nicht zuständig“) und Steinmeier (bisher keine Antwort). Sie richtete einen Fond für die Familie und zur Deckung der Anwaltskosten ein. Beim Festival in San Sebastián bleibt ein Jury-Sitz leer.
Doch ist Sentsov längst eine Staatsangelegenheit geworden, vor wenigen Tagen forderte der ukrainische Präsident Poroschenko die Freilassung, Russland lehnt es jedoch ab, den Regisseur auf eine Liste für den Austausch Kriegsgefangener zu setzen. Uneinigkeit herrscht darüber, wie der Prozess verlaufen wird, der am 11. Oktober 2014 beginnt. Viele Beobachter befürchten einen veritablen Schauprozess à la Chodorkowski und Pussy Riot. Zwanzig Jahre Haft drohen. Doch gibt es die – fast zynische – Hoffnung, dass Sentsov vom Gamer zum Joker werden könnte. Sein Tauschwert ist hoch.
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