Prozess gegen Lina E.: Es bleibt beim Verdacht
Seit fünf Monaten wird in Dresden gegen Lina E. und drei Mitangeklagte wegen Angriffen auf Neonazis verhandelt. Die Beweise bleiben wackelig.
Maximilian A. streicht durch seinen Bart, starrt an die Decke, antwortet nur in Halbsätzen. Es sei ja alles so lange her, zwei Jahre. Nein, genauer beschreiben könne er die Angreifer nicht, auch nicht den Hammer, den einer der Vermummten verwendete. Und wie er den Angriff erlebt habe? „Naja, war nicht angenehm.“
Maximilian A. sitzt am Mittwoch im Oberlandesgericht Dresden, im Prozess gegen die Leipzigerin Lina E., es ist Verhandlungstag 28. Er ist als Zeuge geladen, ein bulliger 21-Jähriger, „zwei Meter, ziemlich genau“, schwarzer Kapuzenpullover, kurz geschorene Haare. Ein Bauarbeiter und rechtsextremer Kampfsportler. Maximilian A. berichtet von zwei Angriffen auf sich und Gesinnungskameraden in seiner Heimatstadt Eisenach, im Oktober und Dezember 2019. Zwei Angriffe, die Lina E. und ihrer vermeintlichen Gruppe zugerechnet werden.
Beim ersten saß Maximilian A. im Bull’s Eye, einer Eisenacher Szenekneipe, betrieben von seinem Freund Leon Ringl, ein bundesweit bekannter Neonazi, ebenso Kampfsportler. Gegen Mitternacht sei plötzlich ein Dutzend Vermummter in die Kneipe gestürmt, hätte auf die Handvoll Gäste eingeschlagen, berichtet A. „Das ging alles ziemlich schnell, unter einer Minute.“ Er selbst habe sich mit einem Barhocker gewehrt, dadurch nur einen Schlag auf den Arm und Pfefferspray abbekommen.
War sie die Frau in Eisenach?
Beim zweiten Angriff, zwei Monate später, habe er mit zwei Freunden Ringl vom Bull’s Eye nach Hause gefahren, als plötzlich wieder Vermummte aufgetaucht seien. Ringl solle „mit der Scheiße aufhören, sonst bringen wir ihn das nächste Mal um“, soll ein Angreifer gedroht haben. Man habe sich in ein Auto geflüchtet, auch dort sei auf sie eingeschlagen worden, mit Stangen und einem Hammer. Mehrere Schläge habe er abbekommen, dazu üppig Pfefferspray, berichtete Maximilian A.
Doch die Vermummten genauer beschreiben kann der Rechtsextreme nicht. Einzig daran, dass beide Male eine Frau dabei gewesen sei, will er sich erinnern. „Zurück“ habe diese bei den Angriffen jeweils gerufen. Dass eine Frau sich an so einem Überfall beteiligt, habe ihn „gewundert“. Und die langen, dunklen Haare, die bei ihr aus einer Kapuze herausguckten, wie er bei der Polizei sagte? „Kann ich mich nicht mehr erinnern.“
Einen ganzen Tag lang dauert die Befragung von Maximilian A. am Mittwoch, am nächsten Tag wird sie fortgesetzt. Genauer aber wird es auch am Ende nicht. Lina E. verfolgt die Aussage aufmerksam, mal zurückgelehnt, mal liest sie in Akten mit. War sie die Frau in Eisenach? Die Aussage von Maximilian A. wird es nicht klären. Und so geht das schon länger in diesem Verfahren.
Sechs schwere Angriffe
Seit September läuft der Prozess gegen Lina E., seit 14 Monaten sitzt die Studentin schon in U-Haft. Mitangeklagt sind drei Männer aus Leipzig und Berlin, sie indes sind auf freiem Fuß. Die Vorwürfe erhob die Bundesanwaltschaft: Das Quartett soll mit anderen eine kriminelle linksextreme Gruppe gebildet haben, um Rechtsextreme zu überfallen – mit Lina E. als Anführerin. Sechs schwere Angriffe werden ihnen vorgeworfen. Es ist die härteste Anklage gegen Linksradikale seit Langem, welche die Szene mit einer der größten Solidaritätskampagnen seit Langem kontert. „Free Lina“, lautet der Slogan auf vielen Demonstrationen und Hauswänden.
Das Gericht verhandelte inzwischen über alle sechs Übergriffe, begangen zwischen August 2018 und Februar 2020: auf den Leipziger Ex-NPD-Mann Enrico Böhm, den Wurzener Neonazi Cedric S., auf eine Gruppe von Rechtsextremen in Wurzen, auf einen Kanalarbeiter in Leipzig-Connewitz, der eine Mütze mit einem rechtsextremen Emblem trug. Und seit dieser Woche wird auch über den Überfall auf die Eisenacher Rechtsextremen gesprochen.
Die Beschuldigten schweigen allesamt
Alle Attackierten berichteten von Prellungen, Platzwunden oder Knochenbrüchen, in einem Fall mussten danach Metallplatten im Gesicht eingesetzt werden. Aber die Beweislage bleibt auch seit ihren Aussagen unklar. Waren die vier Angeklagten wirklich an den vorgeworfenen Übergriffen beteiligt? Waren sie wirklich eine feste Gruppe? Und war Lina E. ihre Anführerin?
Die Beschuldigten schweigen allesamt dazu. Deshalb wird nun kleinteilig Indiz um Indiz besprochen, jeder Zeuge penibel befragt. Diese Woche sollte Leon Ringl aussagen, der Eisenacher Kneipenbetreiber. Er ist der bisher einzige Zeuge, der in Polizeivernehmungen angab, bei den Angriffen in Eisenach Lina E. direkt erkannt zu haben – anhand der Stimme, der Statur, den Bewegungsabläufen. Kann das sein? Auch das bleibt vorerst ungeklärt: Ringl sagte kurzfristig ab – er habe einen Bandscheibenvorfall. So verzögert sich dieser Prozess erneut.
Lina E. lässt sich im Gerichtssaal dazu nichts anmerken, winkt zu Beginn weiter lächelnd ihrer Mutter und Freunden zu, die stets unter den Zuhörenden sind. Die bisherigen Zeugen müssen die 26-Jährige auch nicht beunruhigen. Der angegriffene Kanalarbeiter konnte die vermummten Angreifer nicht beschreiben. Ein Arbeitskollege auch nicht das „Mädchen“, das mit dabei gewesen sei. Auch die Wurzener Neonazigruppe, die gerade von einem Aufmarsch in Dresden zurückkehrte, konnte die Angreifer nicht identifizieren.
VW Golf mit geklauten Kennzeichen
Der Leipziger Enrico Böhm legte sich gar fest, er habe die Vermummten „als männlich wahrgenommen“. Einer Frau hätte er „so einen Übergriff nicht zugetraut“. Und der Wurzener Cedric S. erklärte zwar, beim Angriff auf ihn sei eine zierliche Frau dabei gewesen, die ihn als „Nazischwein“ beschimpft habe. Genauer beschreiben konnte aber auch er sie nicht – und bei der Polizei hatte S. zuvor nie eine Frau erwähnt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Klar aber ist: Nach dem zweiten Angriff in Eisenach wurde Lina E. erstmals kurzzeitig festgenommen. Beamte stoppten sie nach dem Eisenacher Angriff in einem Fluchtauto, einem VW Golf mit geklauten Kennzeichen, zusammen mit dem Mitangeklagten Lennart A. Es war das Auto ihrer Mutter. Zudem war sie tags zuvor beim Diebstahl zweier Hämmer in einem Leipziger Baumarkt erwischt worden.
Und die Bundesanwaltschaft führt noch weitere Indizien an. Einen gefälschten Ausweis von Lina E. aus ihrer Wohnung. Eine Vielzahl an Handys, Perücken und Brillen, mit denen sie immer wieder ihre Identität verschleiert habe. Ihren Verlobten Johann G., der seit anderthalb Jahren untergetaucht ist, der sich auch an Angriffen beteiligt habe und von dem sich im Bull’s Eye Blutspritzer befunden haben sollen. Am Tatort von Enrico Böhm fand sich zudem eine DNA-Mischspur auf einer Tüte, die zu Lina E. passen könnte. Im Prozess angehörte Sachverständige waren sich jedoch über die Aussagekraft der DNA uneins, die Verteidigung hält sie für nicht verwertbar. Zudem sei ungeklärt, was die Tüte mit dem Angriff zu tun habe.
Die Frau sei „kräftiger“ gewesen
Die Anwält:innen ziehen nicht nur dieses Indiz in Zweifel. Gefundene Fotos bei Lina E. vom Fußballplatz, auf dem Cedric S. trainierte? Offen, wer diese machte. Videoaufnahmen von Lina E. aus einer Regionalbahn vor dem Angriff auf die Neonazis in Wurzen? Nicht geklärt, ob diese wirklich die Angeklagte zeigen. Ein abgehörtes Gespräch aus einem Auto, in dem Johann G. über den Angriff auf den Kanalarbeiter sagt, „das waren wir“? Der Satz sei mehrdeutig, das „Wir“ könne auch „die Connewitzer“ gemeint haben. Zudem dürfe die Aufnahme nicht verwendet werden, weil sie aus einem anderen Verfahren stamme.
Und überhaupt: Wer sage denn, dass es immer Lina E. war, sobald eine Frau an einem Tatort gewesen sein soll? Tatsächlich fanden LKA-Ermittler etwa nach dem Angriff auf Cedric S. weibliche DNA auf dessen Kapuzenpullover. Laut seinen Aussagen kann die DNA nur von der Attacke stammen – sie passt aber nicht zu Lina E. Auch beim Angriff auf Enrico Böhm beschrieben zwei Zeuginnen zwar eine Frau, die aber passt nicht auf Lina E. Ebenso beim Bull’s Eye, wo laut Betreiber Ringl eine Frau das Lokal zuvor ausgespäht haben soll, die aber „kräftiger“ gewesen sei. „Die Bundesanwaltschaft geht einfach davon aus, dass es immer Lina E. war, die an den Angriffen beteiligt war“, kritisiert Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Lina E. „Aber das ist bisher nirgendwo bewiesen.“
Bisher ungeklärt im Prozess ist auch, wie genau die Gruppe um Lina E. ausgesehen haben soll. Gab es überhaupt eine feste Gruppe? Die Anklage sieht hier als einen Beleg einen Brief an einen Mitangeklagten, in dem eine Bekannte eine Abschottung seiner Gruppe beklagt. Die Verteidigung hält diesen Brief jedoch für rechtlich nicht verwertbar – und sieht die behauptete Gruppe als Konstrukt, für das einfach mehrere Körperverletzungen zusammengefasst wurden.
Bundesgerichtshof verwies auf Fluchtgefahr
Die Bundesanwaltschaft ermittelte jedenfalls noch zu fünf weiteren Personen, die sie der Gruppe zurechnete. Bis auf Johann G. gab sie die Verfahren zuletzt aber an die Staatsanwaltschaft Gera ab – weil eine besondere Bedeutung dieser Fälle nicht mehr gegeben sei. Ermittelt wird dennoch weiter: Erst am Mittwoch, kurz vor Prozessbeginn, erfolgten Razzien in Leipzig gegen zwei Linke, denen vorgeworfen wird, Johann G. beim Untertauchen geholfen zu haben. Sie sollen für ihn persönliche Gegenstände in einer Box auf einem Connewitzer Dachboden deponiert haben.
Richter Hans Schlüter-Staats verlängerte wegen der zähen Beweisaufnahmen die Prozesstermine inzwischen bis Ende Juni. Dass Lina E. und die drei Mitangeklagten am Ende verurteilt werden, ist indes nicht ausgeschlossen. Bei der nicht vorbestraften 26-Jährigen ist dies zumindest für die gestohlenen Hämmer und den Eisenacher Angriff wahrscheinlich, bei dem sie im Fluchtauto gefasst wurde. Und womöglich auch für andere Taten – dann, wenn das Gericht nicht die Indizien im Einzelnen für stark genug hält, alle zusammengenommen aber schon. Die Richter ließen bisher nicht erkennen, dass sie die Anklage völlig in Zweifel ziehen.
Verteidiger Ulrich von Klinggräff dagegen betont: „Aus meiner Sicht reicht bisher kein einziger Anklagepunkt für eine Verurteilung.“ Auch ein Solidaritätsbündnis für die Angeklagten spricht von einem „politisch motivierten, unfairen Prozess“, Lina E.s lange U-Haft sei eine „vorverurteilende Bestrafung“. Der Bundesgerichtshof verwies dagegen auf eine Fluchtgefahr und eine mögliche hohe Strafe für Lina E., da sie laut Anklage – anders als die Mitangeklagten – an allen Taten beteiligt gewesen sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid