Jessiden protestieren in Berlin

Rechtsanwältin Kareba Hagemann (l.), die einige der Êzî­d*in­nen vertritt und Basma Haji Foto: Miriam Klingl

Protest von Êzî­d*in­nen in Berlin:Abschiebung trotz Genozid

Êzî­d*in­nen aus dem Irak protestieren vor dem Bundestag gegen drohende Abschiebungen. Viele von ihnen waren deswegen in einen Hungerstreik getreten.

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Aus berlin, 19.10.2023, 17:38  Uhr

Eine Abschiebung wäre für mich ein Todesurteil“, sagt Ali Saydo. Er steht vor dem Deutschen Bundestag, gelbe Jacke, Yankees-Basecap, in einer Gruppe von Menschen. Viele von ihnen wedeln mit Unterlagen, wollen von ihrem Schicksal erzählen: Sie sind Êzî­d*in­nen aus dem Irak, nach Deutschland geflohen vor dem Genozid durch den sogenannten Islamischen Staat und seinen Folgen.

Doch nun hält Saydo ein Papier in der Hand: Das Landratsamt Landshut teilt ihm mit, er habe Deutschland bis zum 8. November zu verlassen. Saydo ist nicht der einzige, dem die Abschiebung droht. Deswegen protestieren sie vor dem Reichstagsgebäude, seit dem 9. Oktober schon. 20 Menschen waren bis Donnerstag im Hungerstreik. Etwa ebenso viele mussten während des Hungerstreiks bereits ins Krankenhaus gebracht werden.

„Der IS ist in mein Dorf gekommen“, erzählt Saydo. Sie seien unter Beschuss in die Berge geflohen, hätten dort sieben Tage ohne Essen und Wasser ausgeharrt. „Ich habe gesehen, wie Menschen verdurstet oder ihren Wunden erlegen sind.“ Die nächsten Jahre lebten er und seine Familie in einem Flüchtlingslager in der Autonomen Region Kurdistan. Seine Frau und die Kinder sind noch immer dort, er selbst kam 2018 nach Deutschland. „Wir können dort nicht leben“, sagt Saydo. „Ich habe dort keine Bleibe, ich bekomme keine Arbeit, ich erlebe jeden Tag Bedrohung und Diskriminierung.“

Insgesamt über 300.000 Menschen haben durch den Angriff des IS auf die êzîdische Religionsgemeinschaft in Sinjar im Norden Iraks ihr Zuhause verloren. Viele Tausend wurden ermordet. Tausende Frauen und Mädchen wurden verschleppt und systematisch vergewaltigt. Über 2.700 Menschen werden noch immer vermisst. Viele leben bis heute in großen Camps für Binnenvertriebene in Irak, Syrien und der Türkei. Andere flohen nach Deutschland.

Schutzquote sinkt rapide

Im Januar dieses Jahres hat der Bundestag einstimmig den Völkermord an den Êzî­d*in­nen als Genozid anerkannt und Maßnahmen zur Aufarbeitung und Unterstützung der Betroffenen beschlossen. In dem fraktionsübergreifenden Antrag hieß es, für die Menschen sei eine „sichere Rückkehr“ aufgrund der „hoch volatilen Sicherheitslage“ kaum möglich: Immer wieder erstarkten Keimzellen des IS, auch andere Milizen seien in der Region tätig. Hinzu kämen Militäroperationen Irans und des Nato-Partners Türkei.

Die Situation in den Flüchtlingscamps sei „inakzeptabel“ und biete „keinerlei Zukunftsperspektiven“. Man fordere die Bundesregierung auf, Êzî­d*in­nen „weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren“.

Genau das aber passiert seit 2018 immer seltener. Seit der IS Ende 2017 zurückgedrängt wurde, sank die Schutzquote bei inhaltlichen Entscheidungen rapide – von über 90 Prozent im Jahr 2017 knapp unter 49 Prozent 2022. Deutschland hat aber wegen der Lage vor Ort lange nur Straftäter und Gefährder in den Irak abgeschoben. „Im Mai dieses Jahres hat sich das plötzlich geändert“, sagt Kareba Hagemann. Die Rechtsanwältin steht ebenfalls vor dem Bundestag, will den Protestierenden beistehen. Sie vertritt seit Jahren Êzîd*innen, deren Asylanträge abgelehnt wurden.

Ali Saydo, êzîdischer Geflüchteter

„Ich erlebe im Irak jeden Tag ­Dis­kri­mi­nie­rung“

Menschen wie Ali Saydo. Ein bayerisches Gericht bestätigte die Ablehnung seines Asylantrags: Der IS sei seit 2017 „in der Fläche“ besiegt, und auch durch den Staat oder andere Akteure drohe den Êzî­d*in­nen keine Gruppenverfolgung. Minderheiten erlebten zwar „weitreichende faktische Diskriminierung“, allerdings nicht so erheblich, dass es asylrechtlich relevant wäre.

Es ist nicht lange her, da sah das Bundesinnenministerium das noch anders. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion erklärte das BMI im März, Êzî­d*in­nen sei es wegen des Völkermords durch den IS „ungeachtet veränderter Verhältnisse“ auch weiterhin „nicht zumutbar, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren“.

Rechtsanwältin Hagemann weiß von mindestens 20 Fällen seit Mitte Mai, in denen Êzî­d*in­nen in den Irak abgeschoben wurden, alle aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Viele andere, deren Asylgesuche abgelehnt wurden, bangen nun. Jahrelang hatten die Ausländerbehörden ihnen gesagt, in den Irak werde nicht abgeschoben. Nun gilt das plötzlich nicht mehr.

Wie viele Menschen betroffen sind, ist schwer zu sagen. Das bayerische Innenministerium erklärt auf Anfrage, man habe in diesem Jahr bislang vier Menschen in den Irak abgeschoben, bei denen als Volkszugehörigkeit oder Religion êzîdisch vermerkt war. Da dies aber nicht verpflichtend erfasst wird, könnte die Zahl höher liegen. Nordrhein-Westfalens Fluchtministerium erklärt auf taz-Anfrage, eine „Rückführungsstatistik, die die ethnisch-religiöse Zugehörigkeit erfasst“, liege nicht vor. Mit anderen Worten: Ob unter denjenigen, die in den Irak abgeschoben wurden, auch Êzî­d*in­nen waren, ist unbekannt.

Berlin hingegen schiebe aktuell gar nicht in den Irak ab, erklärt die Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Annika Klose. Das sei auch richtig, das Land sei nicht sicher – vor allem nicht für Êzîd*innen. „Andere Bundesländer müssen diesem Beispiel folgen“, so Klose. Das BMI gibt an, bis Ende August dieses Jahres seien 339 Menschen in den Irak abgeschoben worden. Wie viele davon Êzî­d*in­nen seien, wisse man nicht, Abschiebungen seien Ländersache. Mit den Hungerstreikenden vor dem Reichstag sei man nicht in Kontakt gewesen.

Hungerstreik geht weiter
Portrait von Ali Saydo

Ali Saydo vor dem Bundestag Foto: Miriam Klingl

Ein Umstand, der Max Lucks empört. „Es entsetzt mich, dass Innenministerin Faeser den Abschiebungen von Êzîdinnen und Êzîden keinen Riegel vorschiebt“, sagt der Grünen-Politiker der taz. „Êzîdisches Leben muss nach der Anerkennung des Völkermordes Schutz in Deutschland finden, nicht ‚obwohl‘, sondern gerade weil ihre Lage so komplex ist.“

So entschieden sind nicht alle in der Ampelkoalition. „Ich verstehe die menschlich schwierige Lage“, erklärt auf taz-Anfrage Reem Alabali-Radovan (SPD), Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Aber: „Jedes Asylgesuch in unserem Land wird individuell sorgsam geprüft und entschieden. Rückführungen liegen in der Entscheidungshoheit der Länder.“

Ihre Parteikollegin Derya Türk-Nachbaur ist eine der Initiatorinnen des Antrags zur Anerkennung des Genozids. Dass eine Abschiebung ein „tiefer Schicksalsschlag“ sei, könne sie nachvollziehen, sagt die SPD-Politikerin. Die Behörden aber träfen ihre Entscheidungen auf Grundlage von Lageberichten aus dem Auswärtigen Amt. Sie vertraue darauf, dass die Einzelfälle eingehend geprüft und Ablehnungen begründet würden.

„Ich bin froh um unseren Rechtsstaat und werde seine Entscheidungen nicht infrage stellen“, so Türk-Nachbaur. Sie habe die Menschen im Protestcamp gebeten, ihr ihre Unterlagen zuzuschicken und die Debatte im Bundestag fortzusetzen.

„Das Ziel der Ampelkoalition ist es, den Êzîden zu ermöglichen, wieder in ihrer Heimat leben zu können“, sagt der FDP-Abgeordnete Peter Heidt der taz. „Wenn dort noch Verfolgung droht und ein menschenwürdiges Leben noch nicht wieder möglich ist, müssen wir mit dem Bamf reden.“ Heidt plädiert dafür, mit Abschiebungen zu warten, „bis wir ein besseres Bild der Situation vor Ort haben“ – in wenigen Wochen will eine überfraktionelle Gruppe nach Sinjar reisen. Betroffene in sichere Drittstaaten zurückzubringen, wenn sie über diese eingereist seien, hält Heidt für gerechtfertigt – ebenso wie die Abschiebung êzîdischer Straf­tä­te­r*in­nen in den Irak.

Dass es momentan vor allem diese Gruppe betreffe, verneint Rechtsanwältin Hagemann vehement: „Ich weiß von einem einzigen Fall, in dem der Abgeschobene ein Straftäter ist“, sagt sie. In allen anderen ihr bekannten Fällen seien die Betroffenen nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. „Hier werden Familien auseinandergerissen“, sagt die Anwältin. Vielfach gehe es um Menschen, die sich in den vergangenen Jahren ein Leben aufgebaut hätten. „Viele erfüllen gerade so nicht die zeitlichen Kriterien für ein Bleiberecht wegen besonderer Integrationsleistungen“, sagt Hagemann.

Zeltcamp vor dem Deutschen Bundestag

Zeltcamp auf der Reichstagswiese Foto: Miriam Klingl

Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger nennt es „perfide“, dass nur zehn Monate nach der einstimmigen Anerkennung des Genozids traumatisierte Überlebende „in das Land abgeschoben werden sollen, in dem ihr Leben aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit weiterhin in Gefahr ist“, so Bünger. „Ich fordere ein Bleiberecht für alle nach Deutschland geflohenen Êzîd*innen.“

Auch Düzen Tekkal ist entsetzt. „Es kann nicht sein, dass Überlebende des Genozids jetzt Abschiebung fürchten müssen“, sagt die Gründerin von Háwar Help, einer der Organisationen, die sich maßgeblich für die Belange der Überlebenden einsetzen. „Worten müssen Taten folgen. Das war unsere Hoffnung, als der Bundestag den Genozid anerkannt hat“, so Tekkal. „Wenn jetzt aber die Menschen keinen Schutz bekommen, sondern im Gegenteil dorthin zurückgeschickt werden, wo ihnen Gefahr und Elend droht – dann war diese Anerkennung nichts als Symbolpolitik.“

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