StudentInnen protestieren mit roten Fahnen und Schildern auf denen das Portrait des ehemaligen Verkehrsministers Kostas Karamanlis zu sehen ist. Sein Gesicht ist mit einem roten kreuz durchgestrichen

Die Wut der Menschen ebbt auch Wochen nach dem Unglück nicht ab: Massenprotest in Athen Foto: Florion Goga/reuters

Nach Zugunglück in Griechenland:Explosive Stimmung

Tausende machen die Regierung weiter für das Zugunglück in Griechenland verantwortlich. Am Donnerstag ist der nächste Protest geplant.

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15.3.2023, 12:32  Uhr

Es war ihr letzter Dialog, ihr allerletzter Funkkontakt vor der Katastrophe. Der Lokführer des IC 62 an den Stationsvorsteher im Bahnhof Larissa: „Hört mich Larissa?“ Die Antwort aus Larissa: „Er hört. Mit der Nummer 47 fährst du über die rote Ausfahrtsampel zur Einfahrtsampel in Neoi Poroi (dem nächsten Bahnhof nach Larissa).“ Lokführer: „Vassilis, fahre ich jetzt los?“ Stationsvorsteher: „Fahr los, fahr los.“ Lokführer: „Schönen Abend.“ Stationsvorsteher: „Alles Gute.“ Kurz darauf ist der Lokführer tot, der Bahnhofsvorsteher von Larissa wird verhaftet.

Der Grund dafür: Der Intercity IC 62 war am 28. Februar um 23.21 Uhr und 19 Sekunden auf Hellas’ mit Abstand wichtigster Zugstrecke von Athen nach Thessaloniki im Tempital nahe dem Berg Olymp in voller Fahrt mit einem Güterzug frontal zusammengestoßen. Sofort brach ein Feuer aus.

Die vorderen Waggons des Intercity verschmolzen auf einen Schlag zu einer unförmigen Masse. 57 Menschen, darunter viele Studierende, die nach einem Feiertag zu ihrem Studienort in Thessaloniki zurückkehren wollten, kamen ums Leben.

Sie starben einen grausamen, brutalen Tod. Bei Temperaturen von bis zu 1.300 Grad blieben von ihnen nur verstümmelte, verkohlte Überreste übrig. Die Identifizierung der Leichenreste war nur mit DNA-Tests möglich. Die wohl tragischsten Figuren waren jene Eltern, die ihre eigenen Kinder bestatten mussten. Ein Vater, der seine Tochter verlor, stöhnte herzzerreißend: „Sie war unser Engel. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich. Voller Pläne, voller Träume. Wie konnte das geschehen?“

Manuelle Steuerung – bei bis zu 200 km/h

Das fragen sich fast alle Griechen. Schnell wurde klar, dass der 59-jährige Bahnhofvorsteher in Larissa die Weichen falsch gestellt hatte. Der IC 62 kam so fatalerweise auf das falsche Gleis und knallte nach zwölf Minuten mit Karacho auf den Güterzug, der ihm entgegenkam.

Der vielfach tödliche Frontalcrash brachte geradezu ungeheuerliche Sicherheitslücken im griechischen Zugverkehr zum Vorschein. Ohne ein elektronisches Leit- und Überwachungssystem und ohne funktionierende Ampeln erfolgte die Steuerung nur manuell und per Funk. Und dies, obschon der IC des Zugbetreibers Hellenic Train mit seiner Siemens-Lokomotive vom Typ HellasSprinter ein Tempo von bis zu 200 Kilometer pro Stunde erreicht. Menschliches Versagen, wie offenbar bei der Zugtragödie in Tempi, mit verheerenden Folgen.

Kyriakos Mitsotakis und Kostas Karamanlis lassen sich mit ernster Miene von Feuerwehrleuten den Unglücksort zeigen

Männliche Hybris: Ex-Transportminister Kostas Karamanlis (l.) und Premier Kyriakos Mitsotakis Foto: Dimtiris Papamitsos/ap

Szenenwechsel. Für den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hätte es eine der für ihn so typischen Routineveranstaltungen werden sollen. Er hätte sich an diesem 1. März mit viel Tamtam feiern lassen, wofür er sich seit Beginn seiner Amtszeit vor fast vier Jahren hält: als so eifrigen wie entschlossenen Modernisierer und Reformer seines Landes.

Doch es kam alles ganz anders: Der Regierungschef blies kurzfristig einen Besuch ausgerechnet in der Zentrale des Leitsystems für das nordgriechische Eisenbahnnetz ab. Stattdessen ordnete er in seinem Athener Amtssitz Megaron Maximou eine dreitägige Staatstrauer an. Die Fahnen wurden bei allen öffentlichen Gebäuden auf halbmast gesetzt. Hellas trauerte. Eine stumme Wut hatte sich plötzlich über das Land gelegt.

Der Unmut wächst

Die ist inzwischen einer breiten, offenen Empörung gewichen. Am vorigen Mittwoch, genau eine Woche nach dem Frontalzusammenstoß in Tempi, legte ein Generalstreik das öffentliche Leben in Griechenland lahm. Rund 65.000 Menschen kamen laut Polizeiangaben zu Massenkundgebungen in Athen, Thessaloniki, Larissa, Patras und weiteren Orten zusammen.

Es waren die größten Proteste in Griechenland seit Jahren. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Rund 30 Personen bewarfen am Freitagabend die Büros von Hellenic Train mit Steinen. Die Polizei sprach von einem Überfall.

Unklarheit herrscht derzeit darüber, ob sich die heftigen Proteste zu einem handfesten Aufstand zu Füßen der Akropolis auswachsen. Am Sonntag gab es erneut Massenproteste in Athen, Thessaloniki, Larissa und Patras. Und nun soll ein weiterer 24-stündiger Generalstreik am Donnerstag stattfinden. Sicher ist: Der Unmut über die Regierung Mitsotakis ist gewaltig. Und er wächst. Tag für Tag.

Kostas A. Karamanlis, Transportminister, vor dem Zugunglück

„Es ist eine Schande, dass Sie die Zugsicherheit infrage stellen. Wir gewährleisten die Sicher­heit. Folglich gibt es gar kein Problem mit der Sicherheit“

Befeuert wird die explosive Stimmung unter den Griechen durch den Umstand, dass der Transportminister Kostas A. Karamanlis nur acht Tage vor der Tragödie in Tempi im Athener Parlament einen Abgeordneten vom oppositionellen Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) rüde zurechtgewiesen hatte. Der hatte es gewagt, ihn mit der mangelhaften Sicherheit im Zugverkehr seines Wahlkreises zu konfrontieren.

Wer ist hier verantwortungslos?

Wörtlich sagte Minister Karamanlis von der Regierungsbank mit erhobenem Zeigefinger in Richtung des seiner Ansicht nach zu frechen Oppositionspolitikers: „Das ist eine Schande. Ich schäme mich dafür, dass Sie die Zugsicherheit infrage stellen. Ich will, dass Sie das sofort widerrufen! Eine Schande ist das! Wir sind diejenigen, die die Sicherheit gewährleisten. Folglich gibt es gar kein Problem mit der Sicherheit.“

Geradezu in pathetischer Überhöhung fuhr Karamanlis fort, man sei sich wohl darüber einig, dass „ein verantwortlicher Staat nicht mit der Sicherheit der Passagiere verantwortungslos umgehen“ könne. Kann er doch, wie die Griechen nun verbittert feststellen müssen. Sie sehen in der Zugtragödie in Tempi keinen Unfall, sondern ein Verbrechen mit Todesfolge.

Der Frontalcrash in Tempi geschah für die Regierung Mitsotakis zur ultimativen Unzeit. Karamanlis, 48-jähriger Spross einer Politdynastie in Griechenland, die bereits zwei Premierminister mit insgesamt gut 13 Jahren Amtszeit stellte, trat zwar kleinlaut von seinem Ministerposten zurück. Seinen Sitz im Parlament behält er aber und bleibt damit im Fadenkreuz. Gäbe Karamanlis sein Mandat ab, verlöre er seine Immunität.

Angesichts der anrollenden Klage- und Anzeigenwelle im Fall Tempi würde er somit juristisch eine Angriffsfläche bieten. Strafverfahren haben die griechischen Behörden bisher nur gegen vier Bahnangestellte eingeleitet, den Bahnhofsvorsteher in Larissa inklusive.

Interessenkollision pur

Karamanlis kommt bisher hingegen ungeschoren davon. Das könnte auch so bleiben. Wie verwoben Politik und Justiz sowie Oligarchen, Medien und Meinungsforschungsinstitute in Griechenland sind, hierzulande als ominöse „Diaploki“ (Interessenverflechtung) bezeichnet, offenbart sich mit Nachdruck in der Causa Karamanlis:

Evangelos Dogiakos, von Beruf Rechtsanwalt, Sohn von Isidoros Dogiakos, Griechenlands oberstem Staatsanwalt, wurde von Minister Karamanlis in seinem Büro angestellt. Wer leitet die Ermittlungen im Fall Tempi? Isidoros Dogiakos, der oberste Staatsanwalt in Griechenland, Vater von Evangelos Dogiakos. Interessenkollision pur.

Karamanlis hüllt sich derweil in Schweigen. Gefühlt ist er untergetaucht. Richtig auf die Palme bringt er die Griechen indes damit, dass er bei den bevorstehenden Parlamentswahlen offenbar abermals für die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) antreten will. Ein Unding, wie viele Griechen finden.

Hunderte Protestler fanden sich vor seinem Wahlkreisbüro in der Stadt Serres ein. Sie skandierten: „Keine Stimme für Karamanlis, sein Platz ist im Gefängnis!“ Für den einflussreichen Karamanlis-Clan ist das ein wahrer Schock. Schließlich stammt die Familie aus Serres mit einer ihr bislang treuen Stammwählerschaft.

Generation „K“ wie Krise

Die Wut, gar der Hass richtet sich derweil nicht nur gegen den überheblichen Karamanlis. Bei den Massenprotesten am vorigen Mittwoch waren Transparente und Schilder zu sehen mit der Aufschrift „Mörder“ oder schlicht „12 Minuten“, in Anlehnung an die Zeit, in der die beiden Züge aufeinander zurasten.

Aufgebracht sind Griechen aus allen sozialen Schichten aller Altersgruppen. Tief ins Mark getroffen hat der Frontalcrash jedoch besonders die einkommensschwächeren Hellenen. Ob Arbeiter, Kleinangestellte oder Studenten: Sie haben oftmals keine andere Wahl, als mit dem Zug zu fahren. Denn die teureren Alternativen Auto, Fernbus oder Flug können sie sich nicht leisten. Ihr flammender Zorn richtet sich so gegen „die Politiker da oben“, zumal diese ohnehin nicht den Zug benutzen.

Entsetzt über die Tragödie in Tempi ist zudem die Generation Z, die hierzulande der Generation K entspricht: „K“ für Krise. Sie wird seit Griechenlands faktischem Staatsbankrott im Frühjahr 2010 mit seinen immensen ökonomischen und sozialen Verwerfungen von schweren Krisen gebeutelt.

Jannis, 22, Politikstudent, demonstriert in Athen

„Meine Freunde, meine Familie, alle sind geschockt. Der Staat respektiert uns nicht, er tötet uns sogar. Uns bleibt keine andere Wahl, als auf die Straße zu gehen“

Junge Demonstranten hielten daher Zugtickets in die Höhe mit der Aufschrift „Ohne Rückkehr“ oder Transparente mit der Parole „Die junge Generation verzeiht euch nicht!“. Schon ist in Athen von einer „Generation Tempi“ die Rede. Das Durchschnittsalter aller 57 Tempi­opfer ist 35 Jahre. Das Durchschnittsalter der griechischen Gesamtbevölkerung ist 45 Jahre.

Sparen kann tödlich sein

Auch Jannis, 22, Politikstudent in Athen, protestiert. „Meine Freunde, meine Familie, alle sind geschockt. Der Staat respektiert uns nicht, er tötet uns sogar. Uns bleibt keine andere Wahl, als auf die Straße zu gehen“, sagt er.

Schließlich gehen just jene Griechen auf die Barrikaden, denen der skandalöse Ausverkauf der griechischen Bahnen von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war: Auf Geheiß von Griechenlands öffentlichen Gläubigern EU, EZB und IWF wurde die hiesige Bahngesellschaft im Jahr 2017 für läppische 45 Millionen Euro an die italienischen Staatsbahnen verhökert und in Hellenic Train umbenannt. Dabei war dies genau genommen eine Pseudoprivatisierung.

Obendrein blieb das Schienennetz in griechischer öffentlicher Hand. Brisanterweise verläuft seither die Kooperation zwischen italienischem Zugbetreiber und griechischem Schienennetzbetreiber gelinde gesagt alles andere als harmonisch. Die Probleme im hiesigen Zugverkehr häuften sich, diverse Zugentgleisungen inbegriffen.

Der bereits im Zuge des rigorosen Sparkurses zuvor eingeleitete Personalabbau in großem Stil setzte sich zudem fort, vakante Stellen auch in sicherheitsrelevanten Bereichen blieben unbesetzt, eklatante Lücken in der Elektronik und Digitaltechnik zur Lenkung und Überwachung des Zugverkehrs musste der Faktor Mensch kompensieren. Notgedrungen. Mit fatalen Folgen, wie sich jetzt offenbart.

Kassandrarufe der Gewerkschaften

Wiederholt hatten die Gewerkschafter Alarm geschlagen, zuletzt wenige Tage vor der Tragödie in Tempi. Mit Arbeitsniederlegungen, Streikaktionen, Pressemitteilungen und außergerichtlichen Schreiben legten die Arbeitnehmer den Finger in die Wunde. Scharf im Ton. Gebetsmühlenartig. Öffentlich. Alles vergeblich. Höhnisch wurden ihre Warnungen von der Regierung Mitsotakis in den Wind geschlagen.

Das rächte sich. Premier Mitsotakis steht vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Vier Tage nach dem Frontalcrash im Tempital, am 4. März, beging er seinen 55. Geburtstag. Still und leise. Der notorische Selbstdarsteller, der sonst vollmundig im Stakkato ein neues, modernes Griechenland propagiert, wirkt plötzlich verunsichert, orientierungslos, verloren. Krampfhaft darum bemüht, sich aus der politischen Sackgasse zu bewegen.

Karte von Griechenland, die zeigt, wo der Unfall war

Foto: taz

Schob er zunächst in einer Fernsehansprache dem offenkundig heillos überforderten Bahnhofsvorsteher die Schuld für die Tragödie zu, bat er hernach um Verzeihung, jedoch erst nachdem sich in der griechischen Öffentlichkeit ein wahrer Shitstorm über ihn ergossen hatte.

Schon sein desaströses Pandemiemanagement, die systematische Bevorteilung von Oligarchen, der Absturz Griechenlands auf Platz 108 in der Weltrangliste der Pressefreiheit, die Korruptionsvorwürfe gegen eine Reihe von ND-Politikern sowie der jüngste Athener Abhörskandal:

Bereits vor der Tragödie in Tempi hatte sich abgezeichnet, dass Mitsotakis mit seiner allein regierenden ND beim kommenden Urnengang deutlich hinter dem Ergebnis von 39,85 Prozent bei ihrem Wahltriumph vom 7. Juli 2019 zurückbleiben wird. Umfragen gaben Mitsotakis’ ND dennoch bis zuletzt bis zu 35 Prozent der Stimmen, etwa 5 bis 7 Prozentpunkte vor Syriza unter Ex-Premier Alexis Tsipras.

Geschönte Umfragen

Doch das war vor der Zäsur, vor Tempi. Vor allem bei den jungen Wählern dürften Mitsotakis und Co bei der bald anstehenden Wahl ein historisches Debakel erleben, zumal erstmals auch 17-Jährige daran teilnehmen dürfen. Auch ND-Stammwähler sind nach dem Frontalcrash in Tempi innerlich aufgewühlt.

Eine mit gewisser Vorsicht zu genießende Umfrage des regierungsnahen Meinungsforschungsinstituts Marc (der Chef von Marc fungiert dem Vernehmen nach als Berater von Premier Mitsotakis), jedenfalls die erste veröffentlichte Umfrage nach der Zugtragödie, sieht die ND in der Sonntagsfrage aktuell bei 29,6 Prozent der Stimmen.

Das sind 2,9 Prozentpunkte weniger als in der Marc-Umfrage vor der Zugkatastrophe. Das ND-Ergebnis dürfte ob der unstrittig regierungsfeindlichen Grundstimmung in der Bevölkerung eher geschönt sein, schränken Beobachter mit Blick auf den Marc-Chef prompt ein.

Ein Syriza-Stratege beschwerte sich sogar über die gezielte „Schadensbegrenzung“, die die Regierung Mitsotakis durch die Publikation von Umfragen ihr nahestehender Demoskopen betreiben wolle. Den Syriza-Mann ärgert, dass seine Partei laut Marc-Umfrage bei 25 Prozent der Stimmen stagniert, immer noch knapp 5 Prozent hinter der ND.

Mitsotakis, Tsipras oder die rechtsextremen „Griechen“

Auf 25,6 Prozent kommt Syriza in einer unterdessen veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GPO. Die regierende ND würde laut GPO 29,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Doch auch hier sollte man Vorsicht walten lassen: Denn der langjährige GPO-Chef, Takis Theodorikakos, ist im Kabinett Mitsotakis Minister für Bürgerschutz und einer seiner engsten Vertrauten. Stichwort: „Diaploki“.

Nichtsdestotrotz: Ex-Premier Alexis Tsipras könnte in der Wählergunst gerade nach der Zugkatastrophe gewaltig zulegen, wären nicht ausgerechnet in seiner Amtszeit die griechischen Bahnen an die Italiener veräußert worden.

Was wohl noch schwerer auf Tsipras lastet: Im Juli 2018 kamen bei einem verheerenden Feuer­in­ferno im Küstenort Mati nahe Athen 103 Menschen ums Leben. Das wurde allenthalben als Staatsversagen eingestuft und war einer der wesentlichen Gründe dafür, dass sein Widersacher Mitsotakis es schaffte, Tsipras ein Jahr später aus dem Amt zu jagen. Die nüchterne Logik in den Augen der Wähler lautet: Mati stellte Tsipras bloß, Tempi nun Mitsotakis.

Übereinstimmenden Umfragen zufolge könnten zudem sieben statt heute sechs Parteien den Einzug ins Athener Parlament schaffen. Die neue rechtsextreme Partei „Griechen“ würde demnach die Dreiprozenthürde überwinden. Ihr Gründer ist Ilias Kasidiaris, ein Ex-Mitglied der Führungsriege der berühmt-berüchtigten Goldenen Morgenröte, die bei den letzten Wahlen knapp am Einzug ins Parlament scheiterte. Kasidiaris sitzt nach dem Mord an einem linken Hip-Hop-Sänger gegenwärtig im Gefängnis.

Heilt die Zeit auch schlechte Umfragewerte?

Analysten in Athen weisen darauf hin, eine derartige Zersplitterung der hellenischen Parteienlandschaft erschwere die Regierungsbildung in Athen, zumal bei den nächsten Wahlen erstmals ein Verhältniswahlrecht nach deutschem Vorbild gilt. Mitsotakis’ erklärtes Ziel ist es, wie er wiederholt klargestellt hat, weiter alleine zu regieren.

Dies strebt er mehr denn je durch einen Wahlsieg im zweiten Anlauf an. Falls eine Regierungsbildung nach den ersten Wahlen scheitert, erhielte bei den übernächsten Wahlen der Erstplatzierte wieder einen Bonus an Mandaten. Genau darin sieht Mitsotakis seine Chance – der Tragödie in Tempi zum Trotz.

Der genaue Termin für die kommenden Wahlen steht noch nicht fest. Ursprünglich wollte Mitsotakis, der als Premier das alleinige Recht hat, den Termin festzulegen, vorgezogene Neuwahlen für den 9. April ausrufen, so wurde es in Athen kolportiert. Das Datum ist jetzt definitiv vom Tisch. Auf die lange Bank kann er das nicht schieben. Der Urnengang hat turnusgemäß bis spätestens Sommer dieses Jahres stattzufinden.

Mitsotakis und Co kommt jetzt ein möglichst später Wahltermin entgegen. Getreu dem Motto: „Je später, desto besser. Die Zeit heilt alle Wunden.“ Mitsotakis’ Kalkül dürfte ferner sein, möglichst viele Jungwähler von ihrer Stimmabgabe abzuhalten.

Es Jungwählern so schwer wie möglich machen

Das geht so: Mitte April startet in Griechenland die Tourismussaison. Zehntausende junge Griechen verlassen dann ihre Heimatorte vor allem im wirtschaftlich unterentwickelten Norden Griechenlands, um weit entfernt auf den bei Urlaubern aus aller Welt beliebten Inseln als Saisonarbeiter in Hotels, Restaurants, Cafés, Bistros, Nachtclubs oder sonst wo ihre Brötchen zu verdienen. An Wochenenden haben sie in der Reisesaison besonders viel zu tun.

In Griechenland, das sich in der Ära Mitsotakis gerne als Europas digitaler Vorreiter sieht, existiert bei Wahlen weder die Option Briefwahl noch das E-Voting. Die griechischen Wähler haben am Wahlsonntag wie eh und je von sieben Uhr in der Früh bis sieben Uhr am Abend in ihrem Wahllokal persönlich zu erscheinen.

Einen Abstecher in ihren Heimatort können sich die meisten der Saisonkräfte bei einem Wahltermin in der Reisesaison weder zeitlich noch finanziell leisten, falls die Regierung in Athen dies nicht begünstigt. Diesen Gefallen dürfte ihnen die schwer angeschlagene Regierung Mitsotakis nicht tun, schon gar nicht nach den derzeitigen Massenprotesten.

eine Luftbildaufnahme zeigt einen herabgestürzten Waggon, Teile eines verbrannten Zugteils umringt von Feuerwehrleute und Bergungsarbeiter stehen

Zwei Züge prallten frontal aufeinander: Das Unglück geht auf menschliches Versagen zurück Foto: Vaggelis Kousiora/ap

Auf der jüngsten Kabinettssitzung am Donnerstag gab Mitsotakis folgerichtig keinen Wahltermin bekannt. Die Tragödie in Tempi sei „mit seiner Regierung am Ruder des Landes passiert“, räumte Mitsotakis ein. Er bitte erneut um Entschuldigung, „im Namen aller bisherigen Regierungen sowie persönlich“. „Wir alle sind schuld“, sagte Mitsotakis. Ein Offenbarungseid. Denn bisher wollte er den Griechen weismachen: „Wir sind besser als alle vor uns.“

Die Mär vom „tiefen Staat“

Mitsotakis unterließ es zugleich nicht, unverblümt die Gewerkschaften für die Tragödie an den Pranger zu stellen und damit ausgerechnet diejenigen, die seine Regierung eindringlich vor einem möglichen Unglück gewarnt hatten. Mitsotakis griff dabei den „tiefen Staat“ an und meinte damit einen seiner Meinung nach aufgeblähten und von den Gewerkschaften dominierten Staat. Ihn zu bekämpfen sei „seine vordringlichste Aufgabe“.

Fest steht: Bis auf Weiteres bleibt in Griechenland der Güter- und Personenverkehr auf der Schiene eingestellt. „Fahr los“, die tödliche Anweisung des Bahnhofsvorstehers in Larissa an den Lokführer des IC 62, wird den Griechen noch sehr lange im Gedächtnis haften bleiben. Für die Regierung Mitsotakis vielleicht zu lange.

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