Protest nach Urteil in Hamburg: Hafenstraße ist kein Ponyhof
Nach einem Urteil wird Protest in Hamburg laut. Ein 19-Jähriger wurde für 0,5 Gramm Marihuana zu vier Monaten Haft verurteilt.
HAMBURG taz | Ob für Schwarze noch die gleichen Gesetze gelten wie für Weiße, wenn sie wegen Betäubungsmittelkriminalität vor Gericht stehen, bezweifeln einige Hamburger AnwältInnen. Erst letzte Woche verhängte der Amtsrichter Johann Krieten ein Urteil, das schwer nachzuvollziehen scheint: Ein 19-Jähriger, der aus Guinea-Bissau nach Deutschland geflüchtet war, wurde zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, weil er mit 0,5 Gramm Marihuana erwischt worden war.
Ihm werden zwei Straftaten vorgeworfen, wie die Staatsanwaltschaft bestätigt: Zum einen Handel mit Betäubungsmitteln – dabei gelten Mengen von bis zu sechs Gramm in Hamburg eigentlich als Eigenbedarf. Der zweite Vorwurf lautet auf Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Bei seiner Festnahme durch einen als Flaschensammler verkleideten Zivilpolizisten in der Hafenstraße habe der 19-jährige Mann versucht, den Beamten abzuschütteln und diesen dabei am Kapselgelenk des rechten Zeigefingers verletzt.
Der Verurteilte saß vor der Gerichtsverhandlung bereits sechs Wochen lang in Untersuchungshaft. Die Begründung: Fluchtgefahr. Dabei ist er noch nicht mal vorbestraft. „Diese Härte ist für niemanden nachvollziehbar“, sagte seine Anwältin Fenna Busmann. Während der Untersuchungshaft hat sie vier Mal Haftbeschwerde eingelegt – zuletzt erfolgreich. Am Freitag wurde ihr Mandant aus der U-Haft entlassen. Sie kündigte an, gegen das Urteil in Berufung zu gehen.
Die Strafe falle viel drastischer aus als von der Staatsanwaltschaft gefordert: Der Staatsanwalt hatte vorgeschlagen, lediglich eine Geldstrafe gegen den Mann zu verhängen. Laut dem Sprecher des Amtsgerichts, Kai Wantzen, halte der Richter das Urteil „aus generalpräventiven Gründen für geboten“. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe habe der Richter zur Verteidigung der Rechtsordnung für erforderlich gehalten, erklärte Wantzen.
Racial Profiling, also jemanden wegen äußerer Merkmale zu kontrollieren, ist in Deutschland verboten.
Auf St. Pauli werden regelmäßig Schwarze auf ihre Papiere hin überprüft und auf Betäubungsmittel gefilzt.
Nach Polizeischätzungen halten sich permanent bis zu 25 Personen in dem Gebiet der Hafenstraße auf, die der Betäubungsmittel-Szene zugerechnet werden.
Viele AnwohnerInnen stören sich an den häufigen Polizeieinsätzen vor ihrer Haustür.
Busmann hält das für keine taugliche Begründung: „Hier wird ein Individuum benutzt, um ein abschreckendes Beispiel zu setzen“, sagte sie. Der Fall des 19-jährigen Guinea-Bissauers sei allerdings kein Einzelfall. Der harte Kurs, den RichterInnen derzeit gegen afrikanische Geflüchtete fahren, gebe ihr und anderen StrafverteidigerInnen Anlass zur Sorge – es dränge sich der Verdacht auf, dass mittels Gerichtsurteilen Politik gemacht werde.
Hinter dem unverhältnismäßig hohen Strafmaß, das afrikanische Geflüchtete wegen kleiner Betäubungsmitteldelikte treffe, stehe das politische Bestreben, St. Pauli von unerwünschten Gruppen zu säubern, vermuten die AnwältInnen.
Auch einigen AnwohnerInnen der Hafenstraße geht das teils gewaltsame Vorgehen der Polizei und Justiz gegen die Westafrikaner, die sich auf St. Pauli aufhalten, zu weit. In der AnwohnerInnen-Initiative Balduintreppe organisieren sich Hafenstraßen-BewohnerInnen gemeinsam mit den mutmaßlichen Dealern. „Es geht uns nicht um Drogenpolitik, sondern darum, die rassistische Flüchtlingspolitik zu thematisieren“, sagte ein Anwohner der taz.
Das brutale Vorgehen gegen die Marginalisierten bezeichnete er als ethnische Säuberung eines Stadtteils. „Was da passiert, ist Terror: Die Sanktionen stehen in keinem Verhältnis zum Tatvergehen.“
Außerdem störe die BewohnerInnen der andauernde Belagerungszustand durch die Polizei. Täglich sind mehrere ZivilpolizistInnen und Uniformierte gegen Drogenkriminalität auf St. Pauli im Einsatz. Mehrmals täglich werden Schwarze auf ihre Personalien kontrolliert, mit Platzverweisen belegt oder auf die Wache gebracht. Häufig kommt es dabei zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und AnwohnerInnen – zuletzt unter Einsatz von Pfefferspray gegen eine Anwohnerin in ihrer Privatwohnung. Der Sprecher der Initiative Balduintreppe sagt, er wolle es nicht hinnehmen, dass seine Tochter täglich brutale Übergriffe auf schwarze Menschen mitansehen müsste.
Für den 18. Juni kündigt die Initiative eine Demo an: Unter dem Motto „Genug ist genug“ wollen sie an den Tod von Jaja D. erinnern, der sich Mitte Februar in der Untersuchungshaftanstalt Hahnöfersand tötete. Der 21-Jährige aus Guinea-Bissau war mit 1,65 Gramm Marihuana auf St. Pauli festgenommen worden. Noch vor seiner Urteilsverkündung nahm er sich nach vier Wochen Haft das Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt