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Protest gegen Rentenreform in FrankreichAlle auf die Straße

Hunderttausende Menschen haben in Frankreich erneut demonstriert. Am Mittwoch soll die Regierung die Details der geplanten Reform präzisieren.

Wie hier in Paris gingen auch viele Gelbwesten auf die Straße Foto: rtr

Paris taz | Am Dienstag haben in ganz Frankreich erneut Hunderttausende gegen eine geplante Rentenreform demonstriert. Neben den von der politischen Linken und zahlreichen Gelbwesten unterstützten gewerkschaftlichen Kundgebungen in den Großstädten gab es auch eine starke Mobilisierung in mittleren und kleinen Provinzstädten.

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron will das Rentensystem vereinheitlichen, das mehr als 40 Pensionskassen umfasst, bei denen Renteneintrittsalter und Pensionsleistungen variieren. An vielen Orten mischt sich in den Widerstand gegen die Rentenreform ein allgemeiner Unmut über verschlechterte Lebensbedingungen, wie er bereits im Konflikt der Gelbwesten deutlich geworden ist. In Marseille, Toulouse und Straßburg sind die AssistenzärztInnen in einen unbefristeten Ausstand getreten.

Bei der Demonstration in Paris sind am Dienstag Delegationen aus allen möglichen öffentlichen und privaten Bereichen sichtbar. Neben den Schulen, Krankenhäusern, Feuerwehrleuten, den Beschäftigten der Metro oder den Energiebetrieben ist auch die Oper präsent. „Als Tänzer der Oper gehen wir mit 40 in Rente, das ist aber nicht ganz freiwillig oder gar ein Geschenk. Denn für diese Karriere haben wir auch sehr früh begonnen“, erklärt Germain Louvet, einer der derzeitigen Ballettstars in Paris. „Unsere Rente beträgt dann gerade mal 1.000 Euro im Monat.“

Hundert Meter weiter marschieren Rundfunkbeschäftigte. Schon seit Tagen hört man bei den öffentlich-rechtlichen Sendern vom Band: „Aufgrund eines gewerkschaftlichen Streik­aufrufs sind wir nicht in der Lage, unser übliches Programm auszustrahlen.“

„Wer pflegt dich, wenn du mich verletzt?“

Die beiden Demonstrantinnen Nadia und Maud bezeichnen sich als Gelbwesten. Sie tragen aber einen blauen Pflegerinnenüberzug, auf dem steht: „Wer pflegt dich, wenn du mir eine Verletzung beifügst?“ Der Slogan richte sich an die oft gewalttätig gegen Demonstranten vorgehenden Ordnungskräfte, sagen die beiden Frauen. Die ehemalige Hilfspflegerin Nadia ist 65 und bezieht eine Rente von insgesamt 776 Euro. An eine Verbesserung durch die Reform glaubt sie keine Sekunde: „Alles nur Beschiss, wie die angebliche Prämie, die Macron uns Gelbwesten zugestanden hatte“, sagt sie abfällig.

„Lauter Lügen“, erklärt auch der bekannte Schauspieler Jacques Weber, der sich unter die Demonstranten gemischt hat, der taz. „Der Ultraliberalismus zeigt die Zähne und krallt sich an die Macht“, sagt er und fügt später hinzu: „Jetzt reicht’s und ich hoffe, dass diese Bewegung viel weiter geht und dass man sich bewusst wird, dass wir in die Richtung einer anderen Zivilisation gehen müssen.“

Der seit Mittwochabend dauernde Streik der Bahn, der Pariser Metro, der LehrerInnen und zahlreicher anderer Berufsgruppen könnte sich noch weiter zuspitzen. Die Gewerkschaften der Lkw-Fahrer rufen für Montag zu Aktionen auf. Nichts fürchtet die Regierung mehr als die Straßenblockaden der schweren Brummer, die in kürzester Zeit Versorgungsprobleme verursachen.

Am Mittwoch soll die Regierung endlich die Details der geplanten Reform präzisieren. Allgemein werden Zugeständnisse erwartet. So haben mehrere Regierungsmitglieder in den letzten Tagen dem Lehrpersonal als Ausgleich eine Lohnerhöhung versprochen, anderen stark Betroffenen soll eventuell der Übergang mit einem „Bonus“ versüßt werden. Ob solche sozial verbrämten Retuschen jetzt noch genügen, ist fraglich, denn die Gewerkschaften fordern die bedingungslosen Rücknahme der Reform – nicht bloß eine Verwässerung.

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8 Kommentare

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  • in keinem land in europa ist die zustimmung zum kapitalismus



    in meinungsumfragen so gering wie in frankreich: und in keinem so hoch wie in deutschland

    de.statista.com/st...waehlten-laendern/

    meine prognose dass es in frankreich zu einer antineoliberalen und antikapitalistischen sozialen revolution kommen wird und dass deutschland wie schon so oft in der geschichte auf der seite der reaktion stehen wird- könnte sich also bewahrheiten.

    die hier zitierte meinungsumfrage zum kapitalismus ist nicht mehr ganz aktuell:infolge der Politik von Emmanuel Macron dürfte die zustimmung zum kapitalismus in frankreich mittlerweile noch weiter gesunken sein.

    das eröffnet die historische chance den kapitalismus in europa zu besiegen-allerdings muss man dafür eine vorrübergehende spaltung der eu in kauf nehmen



    ihre politische neugründung kann nur unter französischer führung gelingen

    das romanisch-hellenistische europa kann durch eine soziale revolution gegen den neoliberalen spätkapitalismus ein europäischer bundesstaat werden aus dem durch eine vereinigung mit lateinamerika und den romanischen ländern afrikas ein globaler bundesstaat entstehen kann

    wenn die deutschsprachigen regionen die früher zum römischen reich gehört haben aus der brd austreten dürfen sie sich diesem anschliessen wenn dieses unter französischer führung erneuert wird.

  • Selbst bei der TAZ dominert der eifersüchtige deutsche Michel in den Kommentaren. Genau genommen kann man in Frankreich mit 62 in Rente gehen,ohne Abschläge frühestens mit 64. Und die Ausnahmen haben im großen und ganzen ihre Berechtigung.Gerne wird in Deutschland auch vergessen das die Franzosen 28% Rentenversicherung zahlen( also etwa 40% mehr als in Deutschland).

    Aber hey Hauptsache die üblichen Floskeln und Lügen rausgehauen mit denen schon das deutsche Rentensystem zerstört wurde.

    • @Lars:

      Dominiert? Es gibt gerade mal einen weiteren Kommentar hier, und dessen verhaltene Kritik wurde bestätigt von jemand der in Frankreich lebt...



      Ich drehe das mal um und sage, dass Sie lediglich Angst um lange nicht herausgeforderte Meinungshoheit hier in Ihrer Stamm-Bubble haben.



      Was die Rente angeht: Ja wenn die Franzosen das bezahlen können, und demografische Faktoren dort nicht gelten, dann sollen sie sich ihr Rentenparadies leisten. Mir scheint das aber lediglich sehr egoistisch von den aktuellen Nutzniessern zu sein, denn spätestens in der nächsten Generation, die die aktuellen Wohltaten bezahlt, werden diese Privilegien dann flöten gehen. Generationengerechtigkeit geht anders.



      Und wer die deutsche Rente zerstört hat, das war Kohl, weil er die komplette Rentenlast der neuen Bundesländer den Beitragszahlern aus dem Westen über die Versorgung aus der Rentenkasse aufgebürdet hat, statt das steuerfinanziert zu einer Gesamtaufgabe zu machen - die Industrie hat so nichts leisten müssen, die Beitragszahler mussten die Ost-Rentner alleine stemmen, die nie eingezahlt hatten und deren System bankrott war.

      • @hup:

        Sie überschätzen die rolle einzelner reaktionärer politiker*innen !



        weder Helmut Kohl noch Gerhard Schröder haben "die deutsche Rente zerstört" sondern der ausser kontrolle geratene kapitalismus und alle prokapitalistischen parteien



        in der globalisierten standortkonkurrenz um kapital und arbeit kann es sich kein staat der an ihr teilnimmt leisten den generationenvertrag auf dem die rente beruht einzuhalten.der standort kann also nur flott gemacht werden wenn es zu massiven rentenkürzungen kommt.der weltmarkterfolg eines teils der jungen wird zwangsläufig mit immer weiter zunehmender altersarmut bezahlt.



        da hilft nur eines:aus der kapitalistischen globalisierung aussteigen !dann ist man nicht mehr gezwungen sich dem weltmarkt zu unterwerfen.dann kann die demokratie wieder eine reale und souveräne statt einer marktkonformen sein



        die meisten französinnen und franzosen haben das begriffen und wollen eine protektionistische politik.



        sie werden ihre renten erfolgreich verteidigen!und die kapitalherrschaft beenden.

      • 0G
        06313 (Profil gelöscht)
        @hup:

        Sie vergessen zu erwähnen, dass unser Rentensystem auch deshalb darunter leidet, weil nur Arbeitnehmer/Arbeitgeber einzahlen, aber keine Beamten und Freiberufler wie z.B. in Österreich.

  • Das französische Rentensystem ist durchsetzt von Spezialprivilegien und Partikularinteressen. Eine Korrektur ist überfällig, nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels.



    Dagegen sein ist einfach, aber wenn sie dann keine Renten mehr bekommen, weil die Kassen leer sind, beschweren sich die Leute auch wieder.



    Wer ist denn für ihre Altersversorgung zuständig, wenn nicht die Leute selber?

    • @abcde:

      Stimme Ihnen zu, ich lebe selbst seit über 20 Jahren in Frankreich. Regelrente mit 63. Aber dann die vielen Ausnahmen, Bahn, Post, Gendarmerie können ab 55 in Rente gehen. Diese Funktionars- Gruppe übt eine unverhältnismäßige Macht aus. Hinzu kommt, dass es für die Gelbwesten ein willkommener Anlass ist, sich an den Streiks zu beteiligen und wieder in Erscheinung zu treten.

      • @D-h. Beckmann:

        "...die vielen Ausnahmen..."

        ....sind in vielen Fällen ein Ausgleich für eine starke Belastung im Arbeitsleben. Lokführer arbeiten z.B. auch Nachts, an Wochenenden und an Feiertagen. Dabei haben sie einen Job, in dem sie immer top fit sein müssen, denn schon eine kleine Unaufmerksamkeit kann katastrophale Folgen haben...