Protest gegen LNG: Kein Anschluss unter dieser Insel
Die Klimabewegung versucht zu beweisen, dass sie mehrheitsfähig ist. Sie will an der Seite von Bürger*innen kämpfen, die sich für Heringe einsetzen.
W as Robert Habeck mit Energiesicherheit meint, spürt Andrea Kähler manchmal unter ihren Füßen. Wenn sie am Strand steht und der Sand unter ihren Fußsohlen vibriert, weil draußen auf dem Meer das ankommende Flüssiggas aufgewärmt wird. Wie ein Technobeat. Auf Rügen will dazu aber kaum jemand tanzen.
„Wir sollen uns daran gewöhnen, wurde in der Gemeinderatssitzung gesagt“, erinnert sich Kähler auf einer Podiumsdiskussion im Dorf Frankenthal Ende September. Im Halbkreis um sie herum sitzen Klimaaktivist:innen, die nach Rügen gereist sind, und Menschen von der Insel. Kähler, 62, Gemeinderatsmitglied in Sellin, blaues Leinenkleid, graue Kurzhaar-Frisur, redet hier, weil sie die Tanker vor ihrer Haustür zur Aktivistin gemacht haben. Seitdem im Frühjahr klar wurde, dass nicht nur temporär LNG-Schiffe vor Rügen ankern, sondern ein Flüssiggas-Terminal samt 50 Kilometer langer Pipeline ans Festland gebaut werden soll, setzt sie sich für eine Verhinderung des Projektes ein.
Neben Andrea Kähler auf dem Podium sitzt Rickie Gärtner, 19, in Vintage-Blazer und weißem Spitzentop. Sie heißt eigentlich anders, Rickie Gärtner ist ihr Aktivist:innen-Pseudonym. „Für mich ist das LNG-Terminal hier ein Symbolbild für die Zerstörung der Natur auf der ganzen Welt“, sagt sie. Ihr Wiener Dialekt verrät, dass sie nicht von der Insel stammt. Sie ist hier, weil Rügen ein Ort ist, an dem die Klimabewegung auf einen Erfolg hofft.
Viele Umweltverbände kritisieren die Pläne der Bundesregierung, ausgerechnet dieses sensible Ökosystem mit einer Pipeline zu durchkreuzen. Die Leitung soll durch den Greifswalder Bodden bis nach Lubmin führen. Durch ein Naturschutzgebiet. Genau da lang, wo die Heringsautobahn verläuft, wie sie auf Rügen sagen. Der Hering zieht durch den Bodden in seine Laichgebiete.
Wut aus mehreren Perspektiven
Der Schweinswal und die Kegelrobbe, die sich gerade erst wieder in der Region angesiedelt hat, könnten durch den Unterwasserlärm ihre Orientierung verlieren. Aber da Rügen Anfang Juli in das LNG-Beschleunigungsgesetz aufgenommen wurde, darf ohne Umweltprüfung gebaut werden. Bis Ende des Jahres soll die Pipeline verlegt sein. Wenn die Klimaaktivist:innen noch vorher einen Baustopp erringen wollen, bleibt ihnen kaum Zeit.
Auf dem Podium in Frankenthal sprechen Andrea Kähler und Rickie Gärtner über ihre Wut. Die beiden blicken aus unterschiedlichen Perspektiven. Da sitzt Kähler, die Juristin, die vor beinahe 30 Jahren auf die Insel gezogen ist und vier Kinder großgezogen hat. Rickie Gärtner hat im vergangenen Sommer ihren Schulabschluss gemacht und ist seit einem Jahr Vollzeit-Aktivistin.
Hier auf Rügen will die Bewegung zeigen, dass sie das kann: Koalition zwischen schwerer Bernsteinkette und pinken Blitzohrringen. Neue Mehrheiten bilden über unterschiedliche Fraktionen hinweg. Die, die gegen das kapitalistische System kämpfen gemeinsam mit denen, die fürchten, dass durch das LNG-Terminal weniger Tourist:innen kommen, von denen auf der Insel aber viele Jobs anhängen. Alle gegen LNG. Aber klappt das wirklich?
Wir demonstrieren das Terminal weg, denken sie zu Beginn
Theoretisch sind die Voraussetzungen, die Rüganer:innen für den Protest zu mobilisieren, besser als im Braunkohlerevier. Dort ist der Kohlekonzern RWE seit Generationen einer der wichtigsten Arbeitgeber, er sponsort Sportvereine und Festivals. Die Rüganer:innen sind noch unabhängig von der Deutschen Regas, dem Unternehmen, das das Terminal betreiben soll. Gleichzeitig wird der Tourismus, einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren der Insel, durch den Bau bedroht. Es könnte ein Heimspiel für die Klimabewegung sein.
Im Frühling, als die Rüganer:innen vom Flüssiggasprojekt vor ihrem Strand erfuhren, war ihr Protest auf der Insel laut. Wir demonstrieren das Terminal weg, dachten die Menschen auf Rügen. Sammeln ein paar Unterschriften, und dann ist der Spuk vorbei. Wie Anfang der 90er, als eine überdimensionierte Werft auf Rügen gebaut werden sollte.
Gegen LNG mobilisierte der Tourismusverband, 60.000 Menschen unterzeichneten eine Petition, über 1.200 Einwendungen gegen das Projekt sind beim zuständigen Bergamt in Stralsund eingegangen. Geändert hat das alles nichts. Im ersten Bauabschnitt werden seit Anfang September die Pipelinestücke verlegt. Warum sollten die Rüganer:innen da noch demonstrieren, das ist wie Diätmajo auf fettige Pommes gießen. Das kann man gleich sein lassen – könnte man meinen.
Die Klimabewegung hat auf Rügen aber schon einen ersten Sieg gefeiert. Ursprünglich sollte RWE das LNG-Terminal auf der Insel bauen. Ende April kündigte der Konzern aber an, sich aus dem Projekt zurückzuziehen. Sie hätten RWE durch Lützerath die Laune verdorben, sagte Luisa Neubauer. Bilder von zehntausenden Menschen im Rheinland, die gegen einen Konzern sind, haben dem Image geschadet. „Wir sind euer Investitionsrisiko“, erinnert die Klimabewegung fossile Konzerne gerne.
Jetzt wollen sie der Deutschen Regas, die das Terminal stattdessen baut, auf die Nerven gehen. Rügen soll zum Symbol im Kampf gegen LNG werden. Das Lützerath des Flüssiggases. Die gelben Kreuze, die einst im Wendland gegen Atomkraft erfunden wurden und zuletzt in dem rheinländischen Dorf den Kampf gegen Braunkohle symbolisierten, sind auf Rügen türkisblau.
Im Mai wird das erste Klimacamp auf Rügen veranstaltet. 300 Aktivist:innen zelten auf einer Wiese. Die Klimabewegung will sich mit den Rüganer:innen zusammentun. Vernetzung, das Lieblingswort der Start-Up-Bubble, fällt hier ziemlich oft. Die Aktivist:innen von Ende Gelände ziehen sich wie immer ihre weißen Maleranzüge an, verhüllen ihre Gesichter hinter Sonnenbrillen. Aus dem Lautsprecherwagen schallt Peter Fox, der sich die Zukunft pink malt, über die Strandpromenade. Der Demonstration schließen sich nur eine Handvoll Rüganer:innen an. Vielleicht, weil die Klimabewegung ihr übliches Programm abspult. Popsongs spielen und „Climate Justice“ rufen. Dabei ging es doch eigentlich ums Vernetzen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Deshalb braucht die Klimabewegung ein Gesicht vor Ort. Rickie Gärtner meldet sich, als jemand gesucht wird, der für eine Aufwandsentschädigung die Bewegung mit den Inselbewohner:innen vernetzt. Mit 14 Jahren ging sie zu ihrer ersten Fridays-for-Future-Demo. In Wien machte sie bei der Lobau-Besetzung mit, hauste in einem Verschlag auf einer Baustelle, um zu verhindern, dass das Naturschutzgebiet untertunnelt wird. Mit Erfolg. Dort hat sie gemerkt, dass Aktivismus funktionieren kann. Ohne einen konkreten Ort kommt ihr der Klimaaktivismus manchmal nicht greifbar vor, sagt sie. Hier auf Rügen hat sie wieder ein klares Ziel: Weg mit dem Terminal!
Mitte August reist sie deshalb auf die Insel, erstmal für drei Monate. Seitdem fällt sie hier auf. Nicht nur wegen ihres Aussehens, dafür reicht schon ihr Alter. Rügen hat ein Demographieproblem. Die meisten jungen Menschen verlassen die Insel, gehen zum Studieren nach Berlin, Hamburg oder Greifswald. Wenn sie hier jemanden vom Kampf gegen LNG überzeugen will, könnte er wahrscheinlich ihr Opa sein.
Rickie Gärtner, Aktivistin
Klimabewegung, Ende Gelände? „Da fliegen doch Molotowcocktails, die hauen uns sicher alles kaputt“, höre Gärtner manchmal, wenn sie auf der Straße Leute anspricht. Sie sagt ihnen dann, dass sich fürs Klima einsetzen nicht Scheiben einschmeißen bedeutet.
Das viel größere Problem aber sei die Resignation. „Ich hab die Hoffnung schon aufgegeben,“ sagen viele, oder auch: „Ich bin doch schon viel zu alt dafür.“ „Das finde ich richtig frech, wenn ein Sechzigjähriger vor mir steht und sagt, er sei zu alt“, sagt Gärtner. Sie erzählt den Rüganer:innen auch vom Lobau, wo schon gebaggert wurde und das Projekt dann doch abgebrochen wurde. Es ist noch nicht zu spät, will sie ihnen damit zeigen.
Eigentlich sieht Rickie Gärtner viel Protestpotential auf Rügen. Eine große Mehrheit ist gegen LNG, gegen die Pipeline. In einem Monat habe sie nur mit zwei Menschen gesprochen, die für das Projekt seien. Und die Menschen sind wütend auf die Politik, sagt Gärtner. Aus wütenden Menschen können Aktivist:innen werden, glaubt sie.
Doch aus wütenden Menschen, die das Gefühl haben, die Regierenden hörten ihnen nicht zu, können auch AfD-Wähler:innen werden. Das ist Andrea Kählers Befürchtung. All die demokratischen Maßnahmen, mit denen sie versucht haben, das Terminal zu stoppen, die Petition, die Einwände beim Bergamt, die Kundgebungen – „Wir werden ignoriert“, sagt Kähler.
In ihrem Beruf hat sie sich auf öffentliches Recht spezialisiert, hat jahrelang die Verfassung seziert. In einem roten Aktenordner hat sie die Gutachten zum LNG-Projekt abgeheftet, mit Klebezetteln sind die wichtigsten Stellen markiert. Auf Veranstaltungen liest sie manchmal daraus vor und wirkt fassungslos, obwohl sie die Stellen genau kennt. Ihre Bürgerinitiative Lebenswertes Rügen hat sich ursprünglich gegründet, damit die Urlaubsinsel nicht von noch mehr Bettenburgen überzogen wird. Bis LNG zum größeren Problem wurde.
Anfang Juli will die Bürgerinitiative noch mal versuchen, ihre Landesregierung vom Bau des Terminals abzubringen. Denn in ein paar Tagen wird der Bundesrat darüber abstimmen, ob Rügen in das LNG-Beschleunigungsgesetz aufgenommen wird. Andrea Kähler zitiert gerne den ehemaligen Kanzler Helmut Schmidt: „Als Politiker ist man der Angestellte seines Wählers. Unsere Landesregierung ist also nicht angestellt von der Bundesregierung.“
„Ich leg mich nicht mit der Polizei an“, sagt ein Mitstreiterin
Mit einem Reisebus fährt eine Gruppe der Initiative gemeinsam nach Schwerin. Breite Unterstützung aus der Klimabewegung gibt es diesmal nicht, was daran liegen mag, dass es Montagmorgen ist, es immer wieder schüttet und die Ortsgruppe von Fridays vor Future in Schwerin drei Mitglieder hat.
Stattdessen ist Professor Christian von Hirschhausen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung angereist. Er hat ein Gutachten seines Instituts dabei, an einer Stelle steht deutlich: Das LNG-Projekt in Mukran „ist energiewirtschaftlich nicht notwendig, es liefert keinen Beitrag zur Vermeidung von Gasmangellagen.“
Mit einer gesicherten Energieversorgung Deutschlands begründet die Bundesregierung, dass auf Rügen schneller und ohne Umweltprüfung gebaut werden darf. Nach der Corona- und der Energiekrise will sich Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht darauf verlassen, „dass alles immer gut geht“, sagt er bei einer Rede im Bundestag.
Gleichzeitig macht sich Deutschland mit dem Ausbau der LNG-Infrastruktur in der Klimakrise von fossilen Energieträgern abhängig. Die Verträge mit den Gasfirmen laufen 20 Jahre lang. Die in die LNG-Terminals investierten Milliarden fehlen beim Ausbau der Erneuerbaren. Und auf Rügen wird Fracking-Gas ankommen. Dabei ist Fracking in Deutschland selbst verboten, weil es extrem klima- und umweltschädlich ist.
Andrea Kähler, Gemeinderatsmitglied in Sellin, radikalisiert sich
Nach dem Termin in der Staatskanzlei ist Kähler sich nicht so sicher, ob es in der Regierung auch Schmidt-Fans gibt. Es habe nicht so gewirkt, als gäbe es noch Verhandlungsspielraum. Der Staatssekretär habe mehr weg- als zugehört und auf seinem Handy rumgetippt. „Als hätten wir keine Chance mehr.“ Es gibt Quarkstullen gegen den Frust.
„Vielleicht muss man doch mal den Rügendamm blockieren und es so aussehen lassen, als wäre es eine Autopanne“, sagt Kähler. Vor drei Monaten habe sie solche Gedanken noch nicht gehabt.
Gerade das Beschleunigungsgesetz macht Andrea Kähler wütend. Sie argumentiert immer zuerst damit und ist überzeugt, das es rechtswidrig ist. In einer Notlage, wie dem Ende der russischen Gaslieferungen, dürfen laut Grundgesetz zwar Maßnahmen beschlossen werden. Aber wenn es gar keine Notlage mehr gibt? Wenn die Gasspeicher schon Anfang September zu über 90 Prozent gefüllt sind und Gutachten zeigen, dass wir in Deutschland keine Gasnotlage befürchten müssen? „Dann darf so ein Beschleunigungsgesetz nicht länger bestehen“, meint Kähler.
Die Gutachten, Zahlen und Gesetze kennen sie in Schwerin und Berlin. Von dem Plan abgerückt sind die Regierungen über den Sommer aber trotzdem nicht. Stattdessen scheint Deutschland im LNG-Fieber zu sein. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine plante Deutschland zunächst den Bau von zwei LNG-Terminals. Mittlerweile sind es elf LNG-Projekte.
Die nächste Demonstration auf der Insel soll deswegen größer werden. Und die Demo wird anders, als im Mai von der Bürgerinitiative Lebenswertes Rügen und Ende Gelände gemeinsam veranstaltet. Mit der Initiative haben sie deshalb abgesprochen, keine englischen Sprüche zu skandieren, erzählt Rickie Gärtner. Das könne vor allem die ältere Inselbevölkerung ausschließen. Und es wäre besser, wenn nicht zu krasse Antifa-Parolen gerufen würden – wenigstens nicht gleich zu Beginn.
Und dann wäre da noch ein Punkt, der auch im Anschluss an die Diskussion, auf der Kähler und Gärtner gesprochen haben, im Raum steht: Wie geht ihr damit um, wenn sich Rechte den LNG-Protest zunutze machen? „Man sollte beim Thema bleiben“, sagt ein Rüganer. Eine Spaltung in politische Lager hätte dem LNG-Protest auf Rügen nicht gut getan.
Im Saal wird es still, Blicke werden ausgetauscht.
In diesem Moment hätte eine abendfüllende Diskussion ausbrechen können. Darüber, wie Klimakrise und Rassismen zusammenhängen, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung Gerechtigkeit für alle fordert, die AfD hingegen Gruppen bewusst ausschließt, sie diskriminiert. Die Klimabewegung zeigt klare Kante gegen Rechts, wird auch auf der Demo AfDler:innen bitten diese zu verlassen. Zum Streit kommt es hier trotzdem nicht.
Für Andrea bleibt vor Samstag noch eine Frage offen: Falls eine Sitzblockade entsteht, macht sie mit oder bleibt sie stehen? Im Kernteam aus Bügerinitiative und Klimabewegung wird diese Option diskutiert. Ihre Bezugsgruppe nennen sie die Heringe. Es wäre ein starkes Zeichen: Klimabewegung und Rüganer:innen blockieren gemeinsam gegen LNG.
„Ich lege mich ganz sicher nicht mit der Polizei an“, sagt ein Mitglied der Bürgerinitiative. Einer anderen waren die Aktionen bisher „immer zu lahm“, sie freut sich auf die Demo. Rickie Gärtner hat entschieden am Samstag an keiner Blockade teilzunehmen, weil sie sitzend schwieriger mit Leuten ins Gespräch kommt. Aber eigentlich würde sie gerne. Und Andrea Kähler sagt: „Ich habe Angst.“ Davor, dass sie festgenommen wird, ihr wehgetan wird.
Sie wird sich spontan entscheiden.
Am Samstagmorgen versammeln sich Demonstrant:innen auf dem Platz neben dem Rügen Hotel in Sassnitz, einem Betonklotz aus den sechziger Jahren. Angereiste und Rüganer:innen. Am Horizont ruht die Hispania, ein LNG-Tanker, wie ein Warnsignal. „Alerta, alerta“, schallt es aus den Lausprechern. Antifa-Songs zu Beginn, das sollte doch nicht sein. Schnell wird gewechselt zu Swing-Gedudel von Parov Stellar, das eckt weniger an.
Die Demoleiterin stellt sich ans Mi-krofon, sie freue sich hier mit den Menschen aus Rügen gemeinsam gegen LNG zu protestieren. „Von Rügen! Von Rügen, man!“, schreit ihr eine Frau ins Wort. Nicht alle Insulaner:innen sind erfreut über den Auftritt der Klimabewegung. Manche haben Angst vor Krawallen. Andere haben es möglicherweise nicht geschafft, aus ihrer Wut Aktionismus werden zu lassen, und sind lieber beim Grill geblieben. Von den 700 Demonstrierenden sind etwa 100 von der Insel.
Wer nicht vor die Menge treten will, ist Leon Kräusche, Bürgermeister von Sassnitz und Befürworter des in seiner Stadt geplanten LNG-Projekts. Kähler sieht ihn am Rand der Demo stehen und geht spontan zu ihm. Rickie Gärtner folgt ihr. Warum er noch für das Projekt sei, fragt Kähler, es gebe doch keine Gasmangellage. „Das ist ein Bundesprojekt“, sagt er und weist die Verantwortung von sich.
Gärtner versucht es auf dem emotionalen Weg. „Meine Generation hat Angst vor der Klima-krise, vor dem klimaschädlichen Gas, das hier ankommen wird.“ Christian von Hirschhausen kommt dazu, er hält das gerade veröffentlichte Gutachten des DIW ausgedruckt in den Händen. Darin steht: Es gebe keine Argumente, die für den Energiestandort Mukran sprechen; das Projekt gefährde die Einhaltung der Klimaziele, und eine perspektivische Umnutzung etwa für die Anlandung von Wasserstoff sei sehr unsicher. Zum Beispiel, weil die LNG-Spezialschiffe, die in Mukran liegen sollen, grundsätzlich nicht auf Wasserstoff umgerüstet werden können.
„Bitte lesen Sie es“, sagt der Wissenschaftler. Fast schon verzweifelt wirken die drei, wie sie am Rande der Demo auf den Kommunalpolitiker einreden. „Warum muss ich, der Bürgermeister von Sassnitz, die Welt retten?“, entgegnet er. „Schauen sie sich die Straßen hier an, das Kino da vorne ist eine Ruine.“
Nach rund zwei Stunden bewegt sich der Demozug auf den Hafen von Mukran zu, rechts unterhalb der Brücke liegen die Pipelinerohre, bereit, in der Ostsee versenkt zu werden. Die Heringe werden langsam nervös und gruppieren sich. Dann bricht der erste Teil der Ende-Gelände-Gruppe aus dem Demozug aus, sie stürmen das Hafengelände. Die zweite Gruppe bricht aus, die weißen Maleranzüge rennen auf Andrea Kähler zu, die sich an den Straßenrand rettet. Ihren Schwarm hat sie verloren.
Plötzlich steht ihre Tochter neben ihr. Sie ist nicht hier, um zu demonstrieren, sie ist aus dem Auto ausgestiegen, weil sie wegen der Demo nicht durchkommt. „Die blockieren da oben die Straße“, sagt sie zu ihrer Mutter. Andrea Kähler weiß jetzt, wo sie hin muss, und läuft den Hügel hoch. Da sitzen sie, die Heringe, und essen eingerollte Pfannkuchen auf der Straße, hinter ihnen eine Autoschlange. Andrea Kähler hebt den Daumen nach oben. Dann setzt sie sich hin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin