Professorin über Wokeness: „Raus aus den Kulturkämpfen!“
Die Professorin und Buchautorin Catherine Liu wendet sich von der Klasse der linksliberalen Akademiker ab, um zum wahren Klassenkampf zurückzufinden.
taz: Frau Liu, Sie sind Professorin an einer öffentlichen Eliteuni, warum schreiben ausgerechnet Sie ein Buch, das mit der linksliberalen akademischen Schicht hart ins Gericht geht?
Catherine Liu: Meine Beschäftigung mit dieser Klasse, meiner Klasse, begann, als ich merkte, dass sie alles andere als begeistert von Bernie Sanders waren. Jahrzehntelang dachte ich, dass wir alle Umverteilung, öffentliche Gesundheitsversorgung, die Aufspaltung von Monopolen und so weiter wollten, aber dann kommt der erste offen sozialistische Präsidentschaftskandidat daher – und die Menschen um mich herum waren viel mehr zu Hillary Clinton oder sogar Pete Buttigieg hingezogen. Als ich darüber nachdachte, merkte ich, dass es sich um eine klassische Basis-Überbau-Situation handelte: Akademiker denken fälschlicherweise, dass ihre Privilegien daher kommen, dass sie die klügsten und gebildetsten sind, darum wollen sie Politiker, die auch klug und gebildet sind. Tja, 2016 wählten die Amerikaner den dümmsten aller Kandidaten, es war eine Absage an die Werte dieser Klasse.
ist Professorin für Medien und Film an der UC Irvine, Kalifornien. Ihr Buch „Die Tugendpächter“ erschien zuerst 2021 auf Englisch, jetzt bei Westend auf Deutsch.
Sie verwenden für die linksliberale Akademikerschicht den Begriff PMC, die Professional Managerial Class. In den USA gibt es seit ein paar Jahren heftige Debatten über diesen Begriff, Ihr Buch bringt diesen Terminus in den deutschen Sprachraum. Was bedeutet er?
Die Soziologen Barbara und John Ehrenreich prägten den Begriff Ende der 70er, als sie sich damit auseinandersetzten, warum die 68er gescheitert waren. Ihnen fiel an der neuen Linken auf, dass sie stark akademisch geprägt war, Lehrer, Journalisten, Professoren, Ärzte, Anwälte, Berater. Diese Menschen sind zwar lohnabhängig, aber nicht wirklich Arbeiter. Sie verwalten den Kapitalismus. Ich habe auch viel von Siegfried Krakauer gelernt. Die Frage, warum es meiner Schicht so schwerfällt, materielle Probleme zu diskutieren und Solidarität mit anderen Lohnabhängigen aufzubauen, hat mich nicht losgelassen.
Bei Krakauer fand ich die Einsicht, dass sie so sehr mit der Verwaltungslogik des Kapitalismus identifiziert sind, dass Solidarität nicht mehr möglich ist. In seiner meisterhaften Studie „Die Angestellten“ beschreibt er viele der Pathologien, die sich durch die widersprüchliche Klassenposition ergeben. Mal schlagen sie sich auf die Seite der Arbeiterklasse, aber wenn es hart auf hart kommt, dann stehen sie meistens mit dem Kapital. Mit der zunehmenden Komplexität des Kapitalismus wuchs auch die Schicht der Verwalter und wurde viel mächtiger, als sich die Ehrenreichs das je vorstellen konnten. Heute ist es gar nicht mehr denkbar, dass Politiker nicht studiert haben könnten.
An der Spitze ist es noch schlimmer: Joe Biden ist der erste Präsident seit Reagan, der nicht in Harvard oder Yale war, sondern nur an einer mittelklassigen Uni. Damit gilt er schon als Arbeiterpräsident. Dabei haben 66 Prozent der Amerikaner gar keinen Uniabschluss. Vom Rest besucht der größte Teil eine staatliche oder kommunale Hochschule wie die, an der ich unterrichte. Absolventen der teuersten Unis machen nur etwa 3 Prozent der Bevölkerung aus, aber sie bestimmen alle Debatten, als würde es die anderen nicht geben.
Wenn die PMC auch ihre Arbeit verkaufen muss, warum unterscheiden sich ihre Werte so sehr von der anderer Lohnabhängigen?
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele für die unterschiedlichen Arten der Sozialität. In einer Fabrik müssen alle Arbeiter für alle anderen Arbeiter Verantwortung übernehmen, weil am Fließband sonst jemand seine Hand verliert. Dazu will der Boss, dass alles schneller geht, du hingegen willst weniger arbeiten, eure Interessen sind also grundsätzlich verschieden. Selbst wenn du die anderen nicht magst, zwingt dich die Produktionsweise dazu, miteinanderzustehen, um eure Position zu verbessern.
Im Gegensatz dazu gibt es E-Mail-Jobs. Für viele PMC spielt es gar keine Rolle, wie gut sie ihre Arbeit verrichten. Es geht nur darum, wie man sich präsentiert, nämlich als gut vernetzt, freundlich und hilfsbereit. Es geht also darum, der oberen Hierarchiestufe vorzuspielen, dass man gut ist. Es geht um Schein. Daraus fließt ihre Obsession mit Kultur und individuellem Verhalten, mit emotionaler Regulierung, individuellen Konsumentscheiden, Expertenwissen, mit Tugend. Man muss das Richtige sagen, um die Autorität zu befriedigen, nicht einander zu helfen. Es gibt keine liberale Sprache der Solidarität.
Ein Konzept lehnen Sie besonders vehement ab: Intersektionalität. Dabei sind Sie doch selbst ziemlich intersektional: Eine Frau, Person of Color, Migrantin, Arbeiterkind. Was stört Sie so sehr an dieser Idee?
Kimberlé Crenshaw, die den Begriff prägte, war Anwältin. Intersektionalität ist ein juristisches Konzept, kein politisches. Sie wollte zeigen, dass Schwarze Frauen, die ihre Jobs in einer Autofabrik verloren, nicht entweder als Frauen oder als Schwarze diskriminiert wurden, sondern als eigene Kategorie: Schwarze Frau. Es spricht Bände, dass sie vergaß, sie als Arbeiterinnen zu denken, die so was wie von Gewerkschaften erstrittene Arbeitsrechte hatten. Wenn, dann taucht in dieser Theorie Klasse nur als eine von mehreren Identitäten auf, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das finde ich völlig falsch. Klasse ist keine Identität, sondern unser Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Klasse fußt auf Widerspruch, nicht auf Differenz.
Klasse ist auch wichtiger als alle anderen Kategorien: Eine Afroamerikanerin aus der Arbeiterschicht ist einer asiatischen Frau aus der Arbeiterschicht näher als Oprah Winfrey. Das klingt banal, aber in den USA wird uns erzählt, man könne sich nur mit Menschen aus der gleichen ethnischen Gruppe identifizieren. Oder nehmen wir ein deutsches Beispiel: Karl Lagerfeld, möge er in Frieden ruhen, kam aus einer reichen aristokratischen Familie. Er begann sein Leben als reicher Mann und er starb noch viel reicher. Natürlich, er war schwul. Er mag dadurch viel Leid erfahren haben in seinen konservativen Kreisen. Aber niemand kann mir erzählen, dass sein Leben viel mit einem schwulen Mann, sagen wir, aus einer Hamburger Hafenarbeiterfamilie gemeinsam hat.
Seit Ihr Buch erschienen ist, gibt es eine Linke, die sich gegen viele der von Ihnen benannten Themen richtet: Sprachfixierung, Moralisierung individuellen Verhaltens und so weiter. Das wird jedoch oft plump und geht kaum übers Ressentiment hinaus. Unterscheidet sich Ihre Kritik?
Es ist ein schmaler Grat. Es geht nicht darum, etwas zu sagen, nur damit die andere Seite wütend wird. Ich glaube, viele Gegner von Wokeness sind in den letzten Jahren ein bisschen durchgedreht und wollen nur noch provozieren. Ich habe linke Freunde, die komplett von ihrem Hass auf Wokeness aufgefressen wurden. Sie sind wie Alice im Wunderland in einen Hasenbau gefallen und kommen da nicht wieder raus. Es wäre wichtiger, ganz aus den Kulturkämpfen auszusteigen und sich den materiellen Fragen und Kämpfen zuzuwenden. Aber das beste Argument zu haben, wird uns auch nicht helfen. Zu glauben, wir lebten in einem Debattierklub, ist klassisches Denken der PMC. Aber Politik geht um Macht, nicht ums Rechthaben.
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