Pro und Contra: Quadratur des Kreises
Handelt das IOC im Fall der vermutlich intersexuellen Boxerin Imane Khelif aus Algerien korrekt?
Ja,
auch wenn es das IOC war, bei dem die Entscheidung, wer am Sport teilhaben darf und wer ausgeschlossen gehört, denkbar schlecht aufgehoben ist.
Doch noch schlechter ist sie beim Weltboxverband IBA angesiedelt, der die Boxerin Imane Khelif, die noch bei Olympia 2021 das Viertelfinale erreicht hatte, bei der WM 2023 kurz vor dem Finalkampf disqualifiziert hatte. „Durchgefallen“ sei sie beim „Geschlechtstest“, verkündete IBA-Präsident Umar Nasarowitsch Kremlew. Erst hieß es, sie habe XY-Chromosomen, dann erhöhte Testosteronwerte. Tatsächlich weiß die Öffentlichkeit über Khelifs Körper nichts. Dass aber Kremlew bei den rechtsradikalen Nachtwölfe-Rockern war und Vertrauter von Wladimir Putin ist, das weiß man sicher.
Das Wissen, wo der Shitstorm herkommt, dem die 25-jährige Khelif, die aus einem Dorf in Algerien stammt, gerade ausgesetzt ist, hilft bei der Einordnung: Aufgegriffen wurde Kremlews Behauptung von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, als Khelif eine italienische Boxerin besiegt hatte. Zu einem Projekt der politischen Rechten hat die Forderung, Frauen müssten sich einem Geschlechtstest unterziehen, Donald Trump gemacht. Dass es diese entwürdigenden Tests überhaupt gibt, verdanken wir Avery Brundage, dem früheren IOC-Präsidenten aus den USA. Der wollte Frauen im Sport nur, wenn sie grazil seien.
Der Fall der Boxerin Imane Khelif reiht sich in diese von Ausschluss und Sexismus gekennzeichnete Linie ein. Dass sich das IOC noch verweigert, ist keinesfalls stabil. „Es bestand nie ein Zweifel daran, dass sie Frauen sind“, sagte IOC-Chef Thomas Bach über Khelif und eine andere angegriffene Boxerin. Als ob er und sein Komitee dafür zuständig sein dürften.
Der Ausschluss von vor allem intersexuellen und trans Sportlerinnen hat eine Tradition. Bis Ende der 1980er-Jahre ging es vor allem gegen „sowjetische Mannweiber“, die als politisch manipulierte Hermaphroditen galten. Seit den 1990er-Jahren hat das Narrativ eine postkoloniale Wendung genommen: Läuferinnen wie Caster Semenya aus Südafrika oder Maria Mutola aus Mosambik werden nun als Männer beschimpft, die sich Frauenkleidung angezogen hätten.
Dabei gilt: Der Fall eines männlichen Betrügers, der bei den Frauen siegen wollte, ist in der Sportgeschichte noch nie nachgewiesen worden. Nur behauptet wird es immer wieder gerne. Martin Krauss
Nein,
das IOC, Organisator des Boxturniers von Paris, hat einen neuen Skandal in den seit Jahrzehnten skandalträchtigen Boxsport hineingetragen. Der Skandal besteht nicht darin, dass die vermutlich intersexuelle Boxerin Imane Khelif in den Ring steigen darf, sondern unter welchen Umständen sie das tut. Das IOC simplifiziert das Komplizierte auf beachtliche Weise. Es wählt in dieser Causa einen himmelschreiend plumpen Lösungsansatz: Khelif genießt Startrecht im Frauenwettbewerb, weil ein Passeintrag sie als Frau ausweist.
Das ist auf den ersten Blick richtig, auf den zweiten verdeutlicht es die Verantwortungsflucht des Komitees unter dem Vorsitz von Thomas Bach. Khelif ist als Mädchen aufgewachsen, ihre geschlechtliche Identität ist unzweifelhaft, aber als intersexuelle Athletin genießt sie im Leistungssport einen Vorteil, den auch das sich plötzlich fortschrittlich gerierende IOC nicht vom Tisch wischen kann: Wenn stimmt, was kolportiert wird, steht sie seit ihrer Geburt unter dem Einfluss des männlichen Hormons Testosteron. Khelif verfügt, ähnlich wie Caster Semenya, über einen stärkeren Körperbau, die Muskelmasse ist größer. Der Vorteil in Kampfsportarten ist evident und möglicherweise sogar gefährlich für unterlegene Kontrahentinnen.
Um die Güter Chancengleichheit und Fairness im Frauensport zu berücksichtigen, hat man früher entwürdigende Geschlechtertests durchgeführt, heute wird in vielen Verbänden der Testosteronanteil im Blut gemessen; das ist keineswegs demütigend und diskriminierend, sondern entspricht dem Vorgehen bei einer Dopingkontrolle. Auf so eine Messung hat das IOC aber verzichtet, obwohl der unter Kuratel stehende Boxverband Auffälligkeiten festgestellt hat. Das IOC gewichtet seit einiger Zeit anders: Inklusion und Teilhabe seien wichtiger als ein chromosomaler oder hormoneller Status. Das Komitee richtet sich im Endeffekt nicht nach dem Karyotyp (XY oder XX), sondern nur nach dem Phänotyp, kurz nach der identitären Selbsteinschätzung der Sportlerin. Diese Sichtweise führte dazu, dass jede sich weiblich „lesende“ Sportlerin künftig bei Olympia in den Ring steigen könnte. Das wäre freilich genauso absurd wie die Unterminierung von sinnvollen Dopingtests. Jede intersexuelle Sportlerin könnte ihren ohnehin schon erhöhten Testosteronlevel mit Spritzen in die Höhe treiben. Es wäre das Ende des Frauensports, wie wir ihn kennen. Markus Völker
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