piwik no script img

Pro und Contra NormalisierungAlles cool mit schwul?

50 Jahre nach Stonewall hat sich in Sachen Gleichberechtigung viel getan. Doch sind wir schon in der Normalität angekommen?

Noch immer ist ein Coming-out leider mit einigen Hürden versehen Foto: dpa

Ja

Schwul ist cool? Allein die Fragestellung klingt so neunziger, dass die Antwort auf der Hand liegt: Schwul ist so langweilig geworden, dass von „cool“ eigentlich gar keine Rede mehr sein kann – und das ist gut so.

In besagten Neunzigern und frühen Nullerjahren wurde das ja tatsächlich so diskutiert: Nach dem Abklingen der Aids-Krise, die den Homosexuellen zugleich eine größere Sichtbarkeit und damit einhergehende größere gesellschaftliche Akzeptanz beschert hatte, galten Homos eine Zeit lang tatsächlich als „cool“. Just zu der Zeit nämlich, als in Berlin die Ausdrucksformen von Loveparade und der hierzulande als „CSD“ bezeichneten Gay Pride begannen, ineinander zu verschmelzen.

Insbesondere die schwulen Männer galten nun als wandelnde Maskottchen der sich rasch globalisierenden Welt. Herausgelöst aus familiär-traditionellen Bindungen und allzeit den Rollkoffer gepackt, um an einem anderen Ort in der Welt zu feiern oder zu arbeiten. Schwule wurden zur attraktiven Zielgruppe, galten als reise- und konsumfreudig. Und weiterhin als irgendwie schrill-interessant-gut-aussehend – und so weiter. „Cool“ halt.

Heute, 50 Jahre nach Stone­wall und 25 Jahre nach der endgültigen Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 175, der schon 1994 längst nur noch in abgeschwächter Form galt, sind nun hierzulande auch die letzten Hürden genommen, die Gleichstellung erreicht. Nach dem zähem Ringen um die sogenannte „Ehe für alle“ ist nun auch sie geöffnet und zugänglich für alle Menschen, gleich welcher sexuellen Orientierung.

Geschenkt wurde den LGBTI* nichts, das stimmt, doch unterhalb der Ebene politischen Ringens war längst ein liberaler Alltag eingekehrt und eine neue Generation herangewachsen, für die es – bei allen Schwierigkeiten, die es noch immer gibt – wesentlich leichter geworden ist, sich als schwul oder lesbisch zu outen.

Ganz einfach auch, weil sie meist in Elternhäusern aufgewachsen sind, in denen Homosexualität nicht mehr in dem Maße als Tabu gilt, wie es noch bis in die 1980er Jahre üblich war. Wer heute 20 oder 25 Jahre alt ist, hat keine Eltern mehr, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben und denen in der Schule beigebracht wurde, dass Homosexualität eine strafbare Handlung ist.

Und zugleich hatte diese Generation der „Digital Natives“ von Anfang an Zugriff auf das gesamte Wissen der Menschheit, inklusive Werken der Sexualaufklärung sowie auch pornografischen Ausdrucksformen jeder Art. Ein Unterschied ums Ganze, wenn man sich im Internet Rat und womöglich sogar Gleichgesinnte suchen kann, anstatt auf „Dr. Sommer“ in der Zeitschrift Bravo angewiesen zu sein. Tausende Homosexuelle, Achtung Scherz, warten noch heute darauf, dass die von Dr. Sommer postulierte „Phase“ irgendwann vorbeigeht.

Und was für eine Aufwallung war es, als seinerzeit in der „Lindenstraße“ der erste homosexuelle Charakter auftauchte. Und heute? In sämtlichen populären Netflix-Serien sind Homosexuelle selbstverständlicher Bestandteil oder sind gar tragende Protagonisten wie bei „Modern Family“ oder „Grace & Frankie“. Und ja, es macht einen Unterschied, wenn es Role-Models gibt, die mit einer Selbstverständlichkeit daherkommen. In meiner Jugend hingegen wurde der einzige schwule Charakter der Blockbuster-Serie „Denver-Clan“ („Dynasty“), Steven Carrington, im Laufe des Geschehens zwangsheterosexualisiert, weil Werbekunden abzuspringen drohten.

Ja, noch immer ist ein Coming-out leider mit einigen Hürden versehen, die man nicht kleinreden sollte. Gerade junge Menschen, die sich ihrer Sexualität noch nicht richtig bewusst sind, machen anderen jungen Menschen, die auf dem Weg zu einem solchen Bewusstsein sind, das Leben schwer. So bleibt „schwul“ ein beliebtes Schimpfwort und homosexuelle Teenager begehen noch immer häufiger Suizid als heterosexuelle Gleichaltrige.

Doch die Perspektive hat sich verändert, ein „It gets better“ ist im Gegensatz zu früheren Zeiten ganz klar in Sichtweite: Ein glückliches Leben als Homosexueller ist möglich. Mit allen Wahlfreiheiten, die nur denkbar sind. Man kann heiraten, eine treue Beziehung führen oder der Promiskuität frönen – dank der Medikamente HAART und PrEP sogar ohne HIV-Damoklesschwert, das einem über dem Kopf schwebt.

In vielen Familien von heute ist es auch längst nicht mehr opportun, einem eventuell homosexuellen Kind durch schlechte Gefühle einen schlechten Start zu verpassen. Die Sensibilität ist gewachsen, auch wenn der eine oder andere Elternteil sich noch immer einen Ruck geben muss. Insbesondere Väter, die sich mit einem schwulen Sohn abfinden müssen. Doch in den Freundeskreisen und Familien gehören Schwule und Lesben ja eben längst dazu, sind Paten­onkel und Patentanten.

Die Perspektive hat sich ver-ändert, ein It gets better ist im Gegensatz zu früheren Zeiten ganz klar in Sichtweite

Oder man kennt queere Eltern aus der Kita oder der Grundschule, die eigene Kinder haben. Für eine Kultur der Selbstverständlichkeit ist das mindestens so wichtig wie schwule Bürgermeister, lesbische Ministerinnen und Transfrau-Offizierinnen, die als Leuchttürme der Gleichberechtigung fungieren.

Was nun nach all der Normalisierung ein wenig fehlen mag, ist das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Statt einer irgendwie verruchten Minderheit anzugehören, die sich heimlich, still und geheimnisvoll in dunklen Kaschemmen hinter mit Klingeln bewehrten Türen trifft, gehört man nun zur Gruppe all jener irgendwie gleich aussehenden Individualisten.

Mit Bart und Tattoos und Topfpflanze im Zimmer, die ihre Quinoa-Curry-Bowls an langen, großen Restaurant-Tischen verspeisen – die über die Vereinzelung der Menschen hinwegtäuschen sollen – und alles vor dem ersten Bissen noch schnell auf Instagram stellen. Und mit Dating-Apps rumdaddeln.

Homosexuelle sind also cool, ja. Genauso cool wie alle an­deren eben auch.

Martin Reichert

Nein

Es ist für Opfer nie leicht, die zugewiesene Herr-Knecht-Ordnung zu überwinden. Und genau das waren schwule Männer und lesbische Frauen, sie hauptsächlich, in der heteronormativen Welt – Opfer. Sich davon zu verabschieden, als Homo untertänig sein zu müssen, ist schwer. Die ganze Welt auf das Selbstverständlichste zu nehmen, als gleichgeschlechtlich Liebende und Begehrende souverän über den eigenen gesellschaftlich Status zu werden, ebenfalls.

So wie Frauen lernen mussten und müssen, nicht mehr dem Mann als solchem untertan zu sein, so müssen Homosexuelle sich mühselig daran gewöhnen, dass es anderen nicht zusteht, sie als Schwule und Lesben zu diskreditieren. Oder sie zu entwerten, zu übersehen, nichtig zu machen oder gar zu ermorden, weil sie sind, wie und was sie sind.

Als 1969 in New York City die Aufstände von Schwulen, Dragqueens und Lesben gegen eine aggressive und heterosexuelle Polizei begannen, war in der Bundesrepublik erst einige Tage zuvor das grundsätzliche Verbot homosexueller Praxis aufgehoben worden. Der Bundestag hatte sich gegen die erdrückende Mehrheit der sogenannten Volksstimmung entschieden, den Paragrafen 175 so zu liberalisieren, dass einvernehmlicher Sex zwischen zwei Männern nicht mehr strafbedroht war.

Die Verbürgerlichung der Homo-sexuellen, ihre Integration ins Gewöhnliche – sie steht aus

Das ist alles noch nicht lange her, auch wenn der Abstand von 50 Jahren jüngeren Menschen zu fühlen nahelegt, das sei alles Schnee von gestern. Nachhaltig getaut, der ganze existenzenzerstörende Strafquatsch. Doch die meisten der Betroffenen leben noch, sie wissen, wie es war. Und sie wissen auch, dass jeder Freiheitsgewinn seither schwer errungen werden musste.

So auch die vollständige Beseitigung des Paragrafen 175 – die nur zustande kam, weil die DDR-Unterhändler*innen im Einigungsvertrag mit der BRD (unter Leitung von Wolfgang Schäuble) darauf bestanden. Bis hin zum Jahr 2017, als der Bundestag gegen die meisten Abgeordneten der CDU/CSU die Ehe, die bisher heterosexuelles Privileg war, auch für schwule und lesbische Paare öffnete.

Mit anderen Worten: LGBTI*-Leute bekamen und bekommen politisch und kulturell nichts geschenkt. Das, was besser wurde, war auch Teil der Lockerung aller Sittenverhältnisse, die ohnehin seit den sechziger Jahren die Republik umwälzte.

So bleibt es zäh mit der Liberalisierung, auch heute noch. Lesbische und schwule Menschen mussten lernen, sich zu wehren und nicht jeden Anflug von Aggression gegen sich als Impuls zum Weglaufen zu nehmen. Homophobie ist illegitim geworden, moralisch verpönt, ethisch fundamental so anrüchig wie Rassismus. Das ist der entscheidende Fortschritt seit den späten sechziger Jahren.

In Deutschland aber bleibt zu konstatieren: Für Jugendliche kann es ein Faktor größter Zukunftsangst sein, schwul oder lesbisch zu sein. Manche Eltern, fragt man sie nur gründlich, möchten auf keinen Fall und wenn, dann nur, wenn es gar nicht zu verhindern ist, dass ihre Kinder homosexuell sind. Coming-out-Altersstufen sind immer noch nicht parallel zu denen des sexuellen Erwachens, bei heterosexuellen Gleichaltrigen ist das meist die Pubertät.

taz am Wochenende 22./23.6.2019

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Doch ein Coming-out findet allermeist nicht in der Ausprobierphase des Heranwachsens statt, sondern vier bis fünf Jahre danach. Und das erst nach teils monströsen Versuchen der Betroffenen, vielleicht doch noch das elterlich Gewünschte zu schaffen: familiär die heterosexuelle Norm zu erfüllen, und sei sie noch so sanft vermittelt.

Allen antihomophoben Lehrbüchern in deutschen Schulen, allen liberalen Bildungsplänen zum Trotz ist das Wort „schwul“ auf deutschen Schulhöfen eines mit üblem Schmähgehalt. Und unter Mädchen ist die Attributierung als „lesbisch“ auch kein Hinweis auf große Beliebtheit.

Deutschland ist sogar, im Vergleich mit den Niederlanden, Frankreich, Schweden oder Irland ein Fall besonders kalter Herzen, was die Lockerung in puncto „homo“ anbetrifft. Womöglich ist das ein Erbe der aggressiv ausgeübten Macht der Amtskirchen. Gerade nach der NS-Zeit waren die durchweg antischwul, antilesbisch, ganz der heteronormativen Ordnung verpflichtet.

Heute herrscht der Gemütszustand im Mainstream, dass man sie, die Homos, zwar schon hinnehmen muss, sie jedoch nicht prinzipiell für gleichwertig und vorzeigbar als eigenen Nachwuchs hält. Das hält sich besonders in den bildungsbürgerlichen Mittelschichten und ist wahrlich keine Spezialität der von ihnen verachteten „Unterschichten“. Eher im Gegenteil. Die Verbürgerlichung der Homosexuellen, ihre Integration ins Gewöhnliche – sie steht aus.

Jan Feddersen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Wir sind näher dran an einer Art von Normalität lieber Martin Reichert, als in manch anderen Ländern. Aber es ist noch viel Luft nach oben.



    Vielleicht liegt meine eingeschränkte Euphorie auch daran, dass ich im gleichen Jahrzehnt wie Jan Feddersen geboren bin. Mein Glück war, dass mit der Bewusstwerdung meiner "Andersartigkeit" auch die Strafbarkeit, zumindest für die Fälle meiner Interessenlage entfiel. Aber viele Männer, die ich traf waren noch stark geprägt von der Angst enttarnt zu werden. Ich kannte Leute, denen die Koffer von Ihren Vermietern vor die Haustüre gestellt wurden, als sie herausfanden dass „der Student eine schwule Sau“ war. Die Hausbesitzerin (Inhaberin einer Metzgerei-Kette) verbat es sich (es war schon das Jahr 1989) den zweiten Startversuch für einen Schwulen Buchladen in München, ausgerechnet im Hinterhaus ihres Stammhauses als Untermieter eines Ladens für englischsprachige Bücher, zu dulden.



    Wenn ich „ostwärts“ blicke, beschleicht mich mehr ein Grauen, als Hoffnung.



    Richtig, es wurde viel erreicht. Aber nicht genug, um sich im „Ehebett“ auszuruhen.