Pro und Contra Merkel tolerieren: Das kleinere Übel

Der Bundespräsident fordert von der SPD Gespräche zur Regierungsbildung. Sollte sie stattdessen eine Minderheitsregierung tolerieren?

Bilder von Angela Merkel bei zehn verschiedenen Neujahrsansprachen

Ist für die SPD bald wieder Murmeltiertag? Foto: dpa

Ja

Wenn Politiker Erwartungen wecken, die sie dann ohne Not enttäuschen, betreiben sie Raubbau am Rohstoff der Demokratie: Vertrauen. Genau das wird passieren, wenn die SPD zum dritten Mal in eine Merkel-Regierung eintritt. Denn die SPD-Spitze hatte nach der Wahl geschworen, dies keinesfalls zu tun. Das Nein zu Merkel wurde zwar allzu selbstgefällig vorgetragen, hatte aber einen rationalen Kern. Die Große Koalition hat nicht nur der SPD geschadet – sondern auch der AfD genutzt. Wenn die SPD nun umfällt und wieder Ministersessel besetzt, ist das der Stoff, mit dem die AfD Affektpolitik macht.

Allerdings ist die Alternative ähnlich miserabel. Neuwahlen wären eine Bankrotterklärung der politischen Mitte. Drei Viertel der WählerInnen haben für SPD, Union, Grüne und FDP gestimmt. Wenn diese Parteien nun unfähig sind, eine Regierung zu bilden, ist das Wasser auf die Mühlen der Rechten.

Wenn man sich mit zwei gleichermaßen üblen Alternativen konfrontiert sieht, ist es klug, eine dritte zu suchen. Die gibt es: Die SPD muss Merkel offensiv eine Tolerierung anbieten.

Das zentrale Argument gegen Minderheitsregierungen lautet, jedenfalls in Deutschland, dass sie unzuverlässig seien. Aber diese Konstruktion kann stabil sein. In den Grundzügen der Außen- und Europapolitik herrscht zwischen Merkel und der SPD ohnehin viel Konsens.

Die SPD würde damit zwar das Risiko eingehen, für eine Politik verantwortlich gemacht zu werden, deren Autor sie nicht direkt ist. Das ist nicht ideal. Aber schlimmer wäre es, als opportunistische Umfaller zu gelten oder für Neuwahlen verantwortlich gemacht zu werden, die womöglich doch nur zu einer Großen Koalition führen.

Tolerierung ist das kleinste der drei Übel. Nicht nur für die SPD. Auch für die Demokratie. Stefan Reinecke

Nein

Wie elendig ist der Zustand der SPD, dass aus Angst vor Neuwahlen in der Partei jetzt ernsthaft über die Unterstützung einer Minderheitsregierung der Union diskutiert wird. Die So­zial­demokraten können nur darauf hoffen, dass sich Angela Merkel nicht darauf einlässt. Es ist schon skurril, dass die Genossen jetzt plötzlich über Tolerierungsmodelle nachdenken, über deren Für und Wider bereits die Grünen in den achtziger Jahren mit Inbrunst gestritten hatten – um sich dann von ihnen zu verabschieden. Das Problem: Tolerierung bedeutet, auf einen eigenen administrativen Gestaltungsspielraum zu verzichten. In der Konsequenz führt das dazu, dass politische Erfolge auf den Konten der Regierungsparteien verbucht werden, während für eventuelle unpopuläre Entscheidungen jedoch die tolerierende Partei in Mithaftung genommen wird.

Noch eine zweite Variante wird diskutiert: Eine Minderheitsregierung Angela Merkels könnte mit wechselnden Mehrheiten regieren. Dann bräuchten die SPD-Abgeordneten nur bei unterstützenswerten Vorhaben die Hand zu heben. Klingt gut, oder? Es gibt allerdings einen kleinen Haken: die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Die Vorstellung ist gruselig: Wenn es um Sozialabbau, die Aufweichung der Klimaziele, die Abschaffung des Soli oder die weitere Aussetzung des Familiennachzugs geht, kann sich die Union im Zweifel auf die Hilfe der FDP und der AfD verlassen. Wer die Union „entlarven“ will, dem mag das gefallen. Aber kann das der SPD reichen?

Sollte die SPD deswegen in die Große Koalition? Keineswegs. Sie sollte anfangen, glaubwürdig für eine progressive Mehrheit jenseits der Union zu kämpfen. Denn eine Perspektive hat die traditionsreiche Partei nur als linke Alternative zur Union, nicht als ihre wie auch immer geartete Juniorpartnerin. Pascal Beucker

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Mehrere Buchveröffentlichungen (u.a. „Endstation Rücktritt!? Warum deutsche Politiker einpacken“, Bouvier Verlag, 2011). Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft.

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