Präsident Milei feiert Jubiläum: Ein Jahr lebt Argentinien mit dem Choleriker
Der libertäre Präsident Argentiniens lobt in seiner TV-Ansprache seine schwarze Null. Die rasche Senkung der Inflation hatte einen zu hohen Preis.
I n spätestens drei Monaten ist der Choleriker wieder weg. So sahen viele das Schicksal des politischen Outsiders Javier Milei. Doch nach einem Jahr sitzt der libertäre Präsident fester auf seinem Stuhl als bei seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023.
„Wir haben die Feuerprobe bestanden, wir verlassen die Wüste, die Rezession ist vorbei und das Land hat endlich angefangen zu wachsen“, verkündete der 54-Jährige am Dienstagabend in seiner landesweit gesendeten Rundfunk- und Fernsehansprache.
Dabei hob er vor allem den Rückgang der Inflation und das Nulldefizit im Staatshaushalt als Erfolge seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik hervor.
Wer den Geldhahn so brutal zudreht, den Konsum abwürgt und die Wirtschaft in die Rezession treibt, kann eine sinkende Inflationsrate nur als logische Folge, nicht aber als Erfolg ausweisen.
Schwarze Null zu einem hohen Preis
Wer alle öffentlichen Investitionsausgaben einfriert, ganze Ministerien und Behörden schließt und über 30.000 Staatsbedienstete vor die Tür setzt sowie den Rentnern eine Erhöhung ihrer unter der Armutsgrenze liegenden Mindestrenten verweigert, kann auch eine schwarze Null im Staatshaushalt nur als logische Konsequenz, nicht aber als wundersamen Erfolg verbuchen.
Dass der Anteil der Armen in seinem ersten Amtsjahr von 40 Prozent auf 52 Prozent der 46 Millionen Argentinier*innen gestiegen ist, ist eine weitere logische Konsequenz. Der Erfolg von Milei liegt darin, dass er trotz dieser Kahlschlagpolitik nicht durch eine soziale Revolte aus dem Präsidentenpalast gefegt wurde.
Doch vielleicht nicht einmal das ist sein Verdienst, sondern auch nur ein Effekt des desaströsen Erbes von sechzehn Jahren kirchneristischer Regierungspolitik und vier konservativen Jahren des Ex-Präsidenten Mauricio Macri.
Eitergemisch aus Misswirtschaft und Korruption
Denn egal wo man drückt, überall fließt ein Eitergemisch aus Misswirtschaft, Korruption und Klientelismus heraus. Glaubt man den Umfragen, will die Mehrheit der Bevölkerung unter keinen Umständen ein Zurück in die Zeit vor Milei.
Und während sich die beiden politischen Lager gegenseitig die Schuld dafür geben, ist Mileis Formel ganz einfach: Alle vor mir sind schuld. Dass der Aufstand ausgeblieben ist, liegt auch daran, dass Milei den sozialen Basisorganisationen die finanzielle Grundlage entzogen hat.
War es zuvor gängige Praxis, Sozialleistungen über diese Organisationen an Bedürftige zu verteilen, geschieht dies nun direkt mit Geldkarten für Nahrungsmittel- und Kinderbeihilfen.
Kein Druckmittel mehr für Protestmärsche
Die Basisorganisationen haben nicht mehr das Druckmittel, nur jenen staatliche Hilfe zukommen zu lassen, die auch zu den Protestmärschen gehen.
Waren große Aufmärsche und Blockaden vor Milei die Regel, sind sie in Mileis erstem Amtsjahr zur Ausnahme geworden. Wer dafür das verschärfte Demonstrationsrecht verantwortlich macht, liegt falsch.
Große Erwartungen setzt Milei in das Rigi-System zur Förderung von Großinvestitionen mit einem Volumen von mindestens 200 Millionen Dollar, das mit seiner Laufzeit von 30 Jahren potenziellen Investoren eine Fülle von Steuer- und Devisenvorteilen einräumt.
Hemmungslose Ausbeutung entlang der Anden geplant
Woher der Präsident die Zuversicht nimmt, dass das für große Bergbau- und Ölkonzern maßgeschneiderte System Argentinien nicht auf Jahrzehnte hinaus zum Rohstofflieferanten macht, bleibt sein Geheimnis.
Was der hemmungslosen Ausbeutung von Kupfer, Gold und Silber entlang der Anden noch im Weg steht, ist das Gletscherschutzgesetz, für Milei jedoch ein Kostenfaktor, der noch zu beseitigen ist.
Der Wahlkampf für Teilwahlen ist eröffnet
Spätestens mit seiner gestrigen Rede hat Milei den Wahlkampf für die im kommenden Jahr anstehenden Teilwahlen zum Kongress eröffnet. Mit 10 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer und 15 Prozent im Senat ist Milei in einer stark ausbaubedürftigen Minderheitsposition.
Seine Schwester Karina Milei arbeitet eifrig am Aufbau einer landesweiten Parteistruktur. Mit dem Versprechen auf glückliche Zeiten und mit der Ankündigung von noch viel tieferen staatlichen Einschnitten geht Milei auf Stimmenfang. Das Erste darf bezweifelt werden, das Zweite nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Deutsche und das syrische Regime
In der Tiefe