Politologe über Javier Milei: „Er nutzt den Vorteil der Illusion“

Lucas Romero bilanziert die ersten Monate des argentinischen Präsidenten. Die Unterstützung für Milei ist ungebrochen, stellt er fest.

Ein Mann sing aus voller Inbrunst.

Der argentinische Präsident Javier Milei singt die Nationalhymne während einer offiziellen Zeremonie in Buenos Aires im April 2024 Foto: Natacha Pisarenko/ap

taz: Herr Romero, spätestens in ein paar Monaten ist er weg. So lautete eine verbreitete Meinung, als der Libertäre Javier Milei im Dezember das Amt des Präsidenten übernahm. Heute scheint er aber fester im Sattel zu sitzen als damals. Wie schafft er das?

Lucas Romero: Milei nutzt den Vorteil der Illusion und das Fehlen einer Alternative. Diese beiden Komponenten erklären am besten seine Unterstützung. Die Mehrheit der Gesellschaft hat ein enormes Bedürfnis zu glauben, dass Mileis Politik funktioniert. Und dieser Wunsch zu glauben, macht die Menschen trotz der rigorosen Anpassungs- und Sparpolitik geduldig. Die Frage ist tatsächlich, wie lange und wie viel Leid sie ertragen werden, bevor sie sich durch Ergebnisse belohnt fühlen oder ihr Geduldsfaden reißt.

Der 47-jährige Politikwissenschaftler und Analyst beim Meinungsforschungsinstitut Synopsis in Buenos Aires.

Und die fehlende Alternative?

Mileis Sicherheitsministerin und sein Verteidigungsminister waren das konkurrierende konservative Kan­di­da­t*in­nen­duo bei den Wahlen. Die Einbindung der konservativen Opposition in die Regierung war ein geschickter Schachzug. Damit hat sich Milei zur einzigen Alternative zum abgewählten Peronismus gemacht, dessen Rückkehr ein großer Teil der Bevölkerung absolut nicht will.

Wie hat sich die Unterstützung für den Präsidenten entwickelt?

Die Unterstützung ist ungebrochen. Von 100 Befragten, die bei der Stichwahl im November für Milei gestimmt haben, sind bisher 97 bei ihrer Wahlentscheidung geblieben, was angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage sehr bemerkenswert ist. Auch eine weitere Zahl belegt seine enorme Unterstützung. In der Stichwahl hat er 43 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten erhalten. Wenn man die aktuellen Umfragewerte in Stimmen umrechnet, hätte Milei heute noch mehr Stimmen als damals.

Ist die argentinische Gesellschaft definitiv nach rechts gerückt?

Wenn eine Regierung scheitert, bewertet die Gesellschaft die Alternativen neu. Im Falle Argentiniens ist eine Regierung gescheitert, die für Umverteilung und eine zentrale Rolle des Staates eintrat. Vielleicht, weil der Staat bei diesem wirtschaftlichen Niedergang eine führende Rolle einnahm, während gleichzeitig sein Personal und seine Ausgaben erheblich gestiegen sind, haben die Menschen heute eine negative Sicht auf den Staat. Milei ist in erster Linie eine Reaktion auf dieses Scheitern oder den Untergang einer gemäßigt-linken Hegemonie und eine Neubewertung rechter und gemäßigt rechter Ideen. Was die politische Polarisierung angeht, so hat Milei ein Gleichgewicht geschaffen. Der linke Pol ist immer noch Ex-Präsidentin Cristina Kirchner und der rechte ist jetzt der Populismus, den Milei vertritt. Als Anarchokapitalist hat er jedoch keine nationalistische Komponente, da er den Staat und die Nation verachtet.

Dennoch sehen viele Milei als politisch schwach an.

Milei ist zweifelsohne der politisch schwächste Präsident seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983. Sein größtes Manko ist seine fehlende Autonomie Entscheidungen zu treffen. Im Senat verfügt er nur über ein Zehntel der Mandate und im Abgeordnetenhaus ist es ein Fünfzehntel. Um Gesetze durchzubringen, braucht er Vereinbarungen mit vielen Akteuren.

In welchen sozialen Schichten hat die Milei die größte Unterstützung?

In sozioökonomischer Hinsicht bei den oberen und unteren Einkommensschichten. Die Tatsache, dass Milei bei den Armen gut ankommt, bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit der Armen nicht mehr den Peronismus wählt. Dieser hat seine Basis weiter in den unteren Einkommensschichten. Wenn die makroökonomischen Korrekturen durch die Politik des Präsidenten die soziale und wirtschaftlichen Bedingungen weiter verschlechtern, sprich noch mehr Inflation, noch weniger Kaufkraft und Konsum, möglicherweise weniger Arbeit und mehr Armut, trifft dies vor allem mehrheitlich nicht seine Wähler- oder Anhängerschaft. Die Proteste werden zunehmen.

Wie schätzen Sie den Präsidenten nach knapp vier Monaten im Amt ein?

Milei beschreibt sich selbst als Anarchokapitalist, nach dessen Theorie der Staat eine kriminelle Vereinigung ist und glaubt, dass es Argentinien mit einer Dollarisierung und der Schließung der Zentralbank besser gehen würde. In der Praxis verhält sich Milei jedoch wie jemand, der den Staat auf einen Minimum reduzieren will. Aufgrund seiner politischen Schwäche versucht er, ein Programm umzusetzen, das eher liberal als libertär ist. Aber wenn der Staat verschwindet und die Probleme der Bevölkerung trotzdem nicht gelöst werden, könnten wir eine Rolle rückwärts erleben und der Staat wird als Lösung der sozialen Probleme wiederkehren.

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