Polizeigewalt in Frankreich: „Unerklärlich und unentschuldbar“
In Nanterre nahmen Tausende am Trauermarsch für den von der Polizei erschossenen 17-Jährigen teil. 40.000 Polizisten wurden landesweit mobilisiert.
Die Mutter des Erschossenen saß in einem T-Shirt mit der Aufschrift „Justice pour Nahel 27-6-2023“ auf einem kleinen Laster in der Mitte des Zuges. Sie hatte zum Marsch in Weiß, aber auch zur „Revolte“ ausgerufen. Der Marsch wurde zusammen mit der lokalen Stadtbehörden organisiert und verlief zunächst friedlich.
Die Mutter ist untröstlich: „Er war alles für mich, sie haben mir mein Baby weggenommen, er war noch ein Kind für mich“, klagt sie seit Dienstag. Sie hatte ihren Sohn Nahel allein aufgezogen.
Er war an jenem Tag in Begleitung von zwei Freunden am Steuer eines Fahrzeugs, als dieses von einer Polizeipatrouille in Nanterre gestoppt wurde. Wie nachträglich in einem Video zu sehen ist, zückt einer der beiden Motorradpolizisten seine Dienstwaffe und zielt auf den Fahrer. Als der Gas gibt, fällt der tödliche Schuss.
Von Notwehr kann Polizeigewerkschaft nicht sprechen
Heute fällt es auch den Polizeigewerkschaften, die sonst immer Notwehr in ähnlichen Situationen geltend machen, ziemlich schwer, das Vorgehen ihres 38-jährigen Kollegen von der Verkehrspolizei zu rechtfertigen. Der Grund dafür ist das Video.
Es hat in Frankreich fast den Effekt der unerträglichen Bilder des Tods von George Floyd, der 2020 im US-Staat North Carolina von einem Polizisten getötet worden war. Für die schärfsten Kritiker aus den Reihen der Politik und von Prominenten ist das Video der Beweis für eine schockierende und in den letzten Jahren mutmaßlich zunehmende Polizeigewalt. Die Umstände von Nahels Tod sind offensichtlich nicht zu rechtfertigen.
Er war zwar kein „Baby“ mehr und der Polizei bereits bekannt, die ihn wegen Fahrens ohne Führerschein erwischt hatte. Doch war er laut der Anwältin Jennifer Cambla nicht vorbestraft.
Der Vorsitzende des Sportvereins Ovale Citoyen, Jeff Puech, kannte Nahel: „Er wollte beruflich und sozial weiterkommen, er war kein Junge, der vom Dealen oder der Kleinkriminalität lebte“, sagte er der Zeitung Le Parisien.
Nahel entsprach somit nicht unbedingt dem Klischee des Vorstadtjugendlichen, mit denen sich die Polizei in einem permanenten Konflikt verwickelt fühlt. Pech für die extreme Rechte, die sich fast reflexartig mit dem Polizisten solidarisiert hat.
Selbst die Staatsspitze gibt sich entrüstet
Mit einer fast einstimmigen Entrüstung über den inakzeptablen Tod eines Jugendlichen hat im Gegensatz dazu die Staatsführung reagiert. Nach Innenminister Gérald Darmanin und Premierministerin Elisabeth Borne hatte am Mittwoch auch Staatspräsident Emmanuel Macron bei einem Besuch in Marseille sehr deutlich Stellung genommen. Der Tod eines unschuldigen Jugendlichen sei „unerklärbar und unentschuldbar“, sagt Macron.
Die Polizeigewerkschaften, die sich mit ihrer Forderung eines erweiterten Notwehrrechts in die Enge gedrängt fühlen, protestieren, der Präsident verletze mit dieser „Vorverurteilung“ ihres Kollegen das Prinzip der Gewaltentrennung.
Für Macron geht es eher darum, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. So verurteilte er auch die gewaltsamen Proteste der letzten zwei Nächte als „ungerechtfertigt“. Um weitere Ausschreitungen einzudämmen, wurden laut dem Innenministerium für Donnerstagabend landesweit 40.000 Beamte mobilisiert, davon 5.000 in Paris und Umgebung.
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