Unruhen in Frankreich: „Hat mit Nahel nichts mehr zu tun“

Nach vier Krawallnächten zeichnet sich Sonntagfrüh eine gewisse Beruhigung ab. Die Regierung ist mit der Gewalteskalation völlig überfordert.

Polizisten auf dem Champs Elysee, im Hintergrund Brautkleider im Schaufenster

In der Nacht zum Sonntag kam es in mehreren Städten Frankreichs erneut zu Ausschreitungen Foto: Juan Medina/Reuters

PARIS taz | Am Sonntagvormittag zog Innenminister Gérald Darmanin, wie schon an den Vortagen, seine Bilanz einer vierten Krawallnacht in Frankreich mit Plünderungen, Verwüstungen von Geschäften, Angriffen auf öffentliche Gebäude und Fahrzeuge. Etwas mehr als 700, meist sehr junge, Personen sind in der Nacht festgenommen worden, in der Nacht auf den Samstag waren es doppelt so viele gewesen.

Ist dies bereits das ein erstes Zeichen einer Beruhigung? Das hofft der Innenminister, der mit 45.000 Angehörigen der Polizei und Gendarmerie und selbst Eliteeinheiten praktisch alles eingesetzt hatte, was ihm – außer den Streitkräften für einen Bürgerkrieg – für die innere Sicherheit zur Verfügung steht.

Auch die als Abschreckung gedachte starke Präsenz der Ordnungskräfte mit Panzerfahrzeugen konnte indes nicht verhindern, dass zahlreiche Städte und Quartiere erneut in Angst und Schrecken versetzt wurden. Manchmal bereits am hellen Tag griffen kleine Gruppen von Jugendlichen im Zentrum von Marseille, Straßburg oder Nizza, aber auch in mehreren Vororten der Hauptstadt Paris Geschäfte oder ganze Einkaufszentren an. Besonders interessiert waren die Plünderer an Mode- und Sportartikeln, Handys, alkoholischen Getränken oder Zigaretten. Ein Teil davon wurde wenig später auf der Straße zum Verkauf angeboten.

Das Chaos der ersten Krawallnächte hatte die Wirkung eines Dammbruchs. Die jugendlichen Randalierer und Plünderer scheinen vor nichts mehr Angst oder Respekt zu haben. Der Rest der Bevölkerung ist weitgehend schockiert. Denn mit dem Tod des 17-jährigen Nahel, der am Dienstag von einem Polizisten in Nanterre erschossen worden war, hat diese zusehends blinde Gewalt nichts mehr zu tun. Zu diesem konsternierten Schluss kommen die Bürgermeister der Kommunen und Stadtviertel, in denen öffentliche Gebäude und Einrichtungen wie Polizeiposten, Schulen, Konzertsäle oder Verwaltungen verwüstet oder verbrannt wurden.

Haus von Bürgermeister attackiert

Da ihnen die nationalen Ordnungskräfte nicht genügend Schutz bieten können, stehen die kommunalen Politiker in der vordersten Linie. Ihre Versuche, mit den Jugendlichen zu diskutieren oder ihre Eltern zu ihrer Verantwortung zu ermahnen, sind weitgehend erfolglos geblieben. In mehreren Fällen wurden sie selber Opfer von Angriffen wie im Süden von Paris der Bürgermeister von L'Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun, dessen Haus in der Nacht auf den Sonntag von Unbekannten mit einem als Rammbock verwendeten Fahrzeug attackiert wurde.

Nur eine beschränkte Wirkung zur Prävention der Aggressionen und Sachbeschädigungen hatte das in zahlreichen Kommunen verhängte Ausgehverbot ab 21 Uhr. In der Pariser Region war um diese abendliche Zeit auch der öffentliche Verkehr mit Bus und Tramway eingestellt worden. Das traf die gesamte Bevölkerung der Außenquartiere der Banlieue, die sich damit erst recht isoliert und oder gar bestraft vorkommen musste.

Im westlichen Vorort Nanterre, wo alles begonnen hatte, wurde am Samstag das 17-jährige Opfer eines verhängnisvollen Schusses aus der Dienstwaffe eines nun der „vorsätzlichen Tötung“ beschuldigten Polizisten nach einer würdigen Zeremonie in der örtlichen Moschee Ibn Badis beigesetzt. Nanterre scheint zur Ruhe zu kommen. Weil die Bus-Fahrer der RATP-Verkehrsbetriebe keinen Nachtdienst haben, treffen sie sich. Zu den Szenen von Plünderungen in Marseille am Fernsehen meinen sie, das habe „mit Nahel gar nichts mehr zu tun“.

Zum Vergleich mit den Unruhen von 2005 nach dem Tod von zwei von der Polizei verfolgten Jugendlichen in Clichy-sous-Bois meint der Busfahrer Farid in der Zeitung Le Monde: „Es ist nicht dasselbe. Damals griff man nicht Geschäfte und Busdepots an. Die Leute sind hier ja so schon arm genug.“ Für die Wut der Jugendlichen hat er aber ein gewisses Verständnis: „Mindestens 50 Prozent der Polizisten sind Rassisten, dieser Beruf zieht Leute der extremen Rechten an, zudem sind sie immer weniger geschult.“

Macrons Ratlosigkeit wird zum Problem

Was kann die Regierung, was kann der Staatspräsident Emmanuel Macron tun? Auf das Chaos im Land, das die Nachrichtensender fast rund um die Uhr zeigen, hat die Staatsführung außer Repressionsversuchen wenig sofortige Antworten. Noch mehr Ordnungskräfte? Drakonische Strafen für die in flagranti Festgenommenen oder Sanktionen für die Eltern von randalierenden Minderjährigen? Ein noch stärkere Überwachung der Kommunikation auf den Internetplattformen? Den Anonymen, die auf den Netzwerken zu Gewalt aufrufen oder diese mit Videos bejubeln, will der Justizminister Eric Dupond-Moretti an den Kragen: „Wir werden die Leute finden, die sich hinter ihren Handys verstecken.“

Macron steht bislang so wenig wie möglich im Rampenlicht. Sein Image ist angeschlagen, für ihn ist es eine Schmach vor der Weltöffentlichkeit, dass er seinen dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland verschieben musste. Doch niemand in Frankreich würde es verstehen oder billigen, wenn er sich ins Ausland absetzte, während sein Land im Chaos zu versinken droht. Man hat in Frankreich nicht vergessen, wie schlecht es im Mai 68, auf dem Höhepunkt der Jugendrevolte, ankam, als General de Gaulle in ein Exil nach Baden-Baden flüchtete. Von Macron wird jetzt eine Initiative erwartet.

Die offensichtliche Ratlosigkeit des Präsidenten, der mehrere Krisensitzungen abgehalten hat, wird zu einem politischen Problem für die Staatsführung. Diese möchte offenbar, wie bisher immer in den sozialen Konflikten, auf Zeit spielen, auch wenn die Kosten damit enorm steigen.

Das Verständnis dafür ist heute allerdings gering. Nicht bloß bei den Geschäftsleuten, die in den Krawallnächten alles verloren haben, oder in armen Vororte, deren spärliche Infrastrukturen verbrannt und verwüstet wurden. Aber auch nicht seitens der Jugendlichen, die seit Jahren die Polizei nicht als schützende Macht im Dienst der Allgemeinheit, sondern als Bedrohung empfinden.

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