piwik no script img

Polizeigewalt gegen GeflüchteteAn der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker

An­woh­ne­r*in­nen St. Paulis fürchten, dass es im Konflikt mit der Polizei bald Tote gibt. Schwarze Menschen in psychischen Krisen seien bedroht.

Dienstwaffe bleibt nicht im Holster: In der Hafenstraße erreichen Einsätze laut Anwohnern neue Eskalationsstufe Foto: Marcus Brandt/dpa

Hamburg taz | Lamin Touray in Hannover, Mouhamad Dramé in Dortmund – die Namen stehen schmerzhaft dafür, wie schnell eine psychische Ausnahmesituation in Konfrontation mit der Polizei zum Tod führen kann. Vor allem, wenn die betroffene Person schwarz ist.

In Hamburg-St. Pauli fürchten An­woh­ne­r*in­nen, dass es vor Ort zu einem ähnlichen Fall kommen könnte. In den vergangenen sechs Monaten setzte die „Task Force Drogen“ dort zwei mal Schusswaffen ein. Die Sondereinheit der Polizei verfolgt seit 2016 schwarze Geflüchtete im Bereich der Hafenstraße wegen potenziellen Handelns mit Betäubungsmitteln. Regelmäßig kommt es zu gewaltvollen Einsätzen wegen des Verkaufs von Kleinstmengen Marihuana und anderen Drogen. „In letzter Zeit werden die Einsätze immer gefährlicher“, sagt eine Anwohnerin der taz. Mit dem Schusswaffeneinsatz sei eine neue Eskalationsstufe erreicht.

So habe bei einer Situation im Juni vielleicht nur die Intervention der An­woh­ne­r*in­nen dafür gesorgt, dass es keinen Toten gab. Eine Anwohnerin schildert die Situation gegenüber der taz so: „Wir saßen abends auf dem Sofa und sahen einen Film, als wir von draußen Geschrei hörten.“ Vom Fenster aus hätte sie und ihre Mit­be­woh­ne­r*in­nen gesehen, wie mehrere Po­li­zis­t*in­nen am Zaun eines Hinterhofs ihre Pistolen auf einen geflüchteten Obdachlosen richteten. Der Mann hatte wohl bis vor wenigen Minuten Essen zubereitet – neben ihm lag ein Brett mit geschnittenem Knoblauch, in der Hand hielt er zwei Küchenmesser.

Aufgebrachter Mann im Hinterhof

Auf einem Video, das eine der Mit­be­woh­ne­r*in­nen filmte, sieht man, wie der aufgebrachte Mann im Hinterhof vor und zurück läuft, mit einer weißen Plane fuchtelt und die Po­li­zis­t*in­nen anschreit, sie sollten weggehen. „Wir hörten ein Klicken“, berichtet die Anwohnerin. „Mir war klar: Ein Polizist hat seine Waffe entsichert. Wenn wir nichts unternehmen, gibt es gleich einen Toten.“ Sie sei in den Garten gerannt und habe versucht, die Person gegenüber den Po­li­zis­t*in­nen abzuschirmen. Auf dem Video ist zu sehen, wie sie versucht, den aufgebrachten Mann zu beruhigen.

„Die Person war offenbar in einer akuten psychischen Krise, schrie und schimpfte“, sagt die Anwohnerin. In der einen Hand habe der Geflüchtete zunächst die weiße Plane gehabt, dann das Brett mit dem geschnittenen Knoblauch darauf, in der anderen Hand zwei Küchenmesser. Auf dem Video hört man, wie der Mann ruft „I was cooking food!“ (auf deutsch: Ich habe gekocht).

Innerhalb weniger Minuten seien mehrere Nachbar*in­nen dazu gekommen und hätten versucht, den Mann dazu zu bewegen, die Messer wegzulegen und sich weiter von der Polizei zu entfernen. „Als er sich soweit beruhigt hatte und die Messer weglegte, merkte ich, dass Pfefferspray in der Luft lag“, sagt die Anwohnerin. Der Betroffene hatte wohl eine größere Ladung abbekommen, er spülte sich Gesicht und Augen aus.

Kri­mi­no­lo­g*in­nen weisen immer wieder daraufhin, dass der Einsatz von Pfefferspray oder Teasern bei psychisch kranken Menschen nicht die gleiche Reaktion hervorruft wie bei gesunden. Anstatt die Person außer Gefecht zu setzen, verstärkt das Reizgas oder der Elektroschock oft Ängste und Aggressionen. Im schlimmsten Fall kann das zu Herzversagen führen.

Auf dem Video sieht man, wie An­woh­ne­r*in­nen immer wieder auf die Po­li­zis­t*in­nen mit ihren gezückten Schusswaffen zugehen und mit ihnen reden. „Wir haben ruhig und pädagogisch erklärt, dass der Mann keine Bedrohung darstellt und sie ihre Waffen herunternehmen sollen“, sagt die Anwohnerin. „Und dass sie die Situation nur weiter eskalieren, wenn sie so laut und bedrohlich auftreten.“

Mir war klar: Ein Polizist hat seine Waffe entsichert. Wenn wir nichts unternehmen, gibt es einen Toten

Anwohnerin, Hafenstraße St. Pauli

Doch die Be­am­t*in­nen seien extrem aufgebracht gewesen und hätten gerufen, dass sie sofort Zugriff bräuchten. „Wir schlugen vor, dass sie den sozial-psychiatrischen Dienst oder einen Krankenwagen rufen“, sagt die Anwohnerin. Die Po­li­zis­t*in­nen hätte stattdessen Verstärkung gerufen und das Haus umstellt. Auch drei knurrende und winselnde Polizeihunde seien dazu geholt worden. „Es war fast ein Wunder, dass nichts Schlimmeres passiert ist“, sagt die Anwohnerin.

Bundesweit sind im Jahr 2024 17 Menschen durch Polizeischüsse getötet worden – so viele wie seit 1999 nicht mehr. Drei Viertel der Opfer waren psychisch krankt, viele von ihnen zudem von Rassismus, Armut, Obdachlosigkeit oder Drogenabhängigkeit betroffen. Ex­per­t*in­nen kritisieren immer wieder die mangelhafte Fähigkeit von Polizist*innen, gegenüber Menschen in psychischen Krisensituationen deeskalierend aufzutreten.

Zu der Situation am 6. Juni im Hinterhof antwortet der Senat auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion: „Die Dynamik der Einsatzlage ließ ein unmittelbares Hinzuziehen von psychologischem Fachpersonal nicht zu.“ Die Po­li­zis­t*in­nen hätten zuvor einen Handel mit Betäubungsmitteln beobachtet, nach dem eine Person in den Hinterhof geflüchtet sei. Der Tatverdächtige habe zwei Küchenmesser in den Händen gehalten und sich bedrohlich auf die Polizei zu bewegt, woraufhin ein Polizist zur Eigensicherung seine Dienstwaffe gezogen habe. Später sei der Zentrale Zuführdienst des Bezirks involviert worden, sagt ein Polizeisprecher auf Nachfrage. Der Zuführdienst ist für die Zwangseinweisung von psychisch kranken Menschen zuständig, die eine Gefahr für sich oder andere darstellen.

Auf dem Boden fixiert

Für die Situation vor Ort sei das zu spät gewesen, meint die Anwohnerin. Als sich der Betroffene schließlich mit erhobenen Händen selbst ausgeliefert habe, hätten die Po­li­zis­t*in­nen ihn auf dem Boden fixiert. Dann hätten sie ihn verhaftet und abgeführt. Am nächsten Tag sei die Person wieder da gewesen. „Die Polizei schafft hier im Viertel keine Sicherheit, sondern eher das Gegenteil, insbesondere für Schwarze Menschen und für Menschen in psychischen Krisen“, so die Anwohnerin.

Wenige Wochen später sei es erneut eskaliert, als Zi­vil­po­li­zis­t*in­nen gewaltsam eine schwarze Person festgenommen hätten. Als An­woh­ne­r*in­nen dazu kamen, habe ein Polizist die Waffe auf sie gerichtet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Hier fehlt die Info, warum die Polizei einfach so in einen Hinterhof gegangen ist, wo gerade jemand friedlich Knoblauch geschnitten hat, und die Situation sich dann so entwickelte.

    Jedenfalls ist der Artikel selbst für die Taz extrem einseitig.

  • Ich kann allen Kritikern an diesen Polizeieinsätzen nur empfehlen, sich über das tägliche Geschehen in Brüssel-Anderlecht , Antwerpen oder vielen anderen Städten in Belgien oder Niederlande zu informieren. Dort bedarf es für Schießereien und Messerstechereien schon lange keine Polizei mehr, es gibt jedes Jahr viele Tote durch diesen Drogenkrieg. Die Aktivität der Polizei kann diese Eskalation verhindern.

  • Sollte auch der Hamburger Polizei bekannt sein, dort am besten besonnene und erfahrene Polizist/ innen dort hinzuschicken. Hysterie vom Fachpersonal ist kontraproduktiv.

  • Danke, an die Anwohnerinnen des Viertels für ihren stabilen Einsatz. Ein unglaublich schönes Beispiel für Zivilcourage mal anders. Ich denke, dass diese Form der verantwortungsvollen Zwischenmenschlichkeit oft das einzige ist wie polizeigewalt opponiert werden kann. Nicht weg gucken, eingreifen, kontrollieren, Präsenz und Solidarität mit dem reppresionsopfer zeigen sind so wichtige verhaltensweisen. Und darüber das symbolische: Dass die Zivilgesellschaft sich vor einem Geflüchteten stellt um ihn vor dem Schuss eines Staatsbeamten zu schützen ist wie eine Allegorie für die Utopie - Danke dafür an die Anwohner von St. pauli

    • @Jakob 16:

      Vielleicht ist bei diesem Thema doch mehr Differenzierung gefragt?

      Immerhin hat ein psychisch kranker, geflüchteter PoC in Magdeburg gerade mehrere Menschen umgebracht.

      Hätte der rechtzeitige Schuss eines/r Polizisten/in dort Menschenleben gerettet?

      Wäre er tödlich getroffen worden, liefe er dann bei Ihnen unter Repressionsopfer?

      Das soll nicht heißen, dass es in dem im Artikel geschilderten Fall nicht gut gelaufen wäre und die Polizist_innen ihre Taktik nicht hätten "optimieren" sollen.

      Rein pauschale Meinungen oder Opferdarstellungen, die werden der Realität nicht immer gerecht.

      Der Einzelfall und seine Umstände sind entscheidend.

      Gilt für die Polizei, gilt auch für die Zivilgesellschaft.