Polizeieinsatz gegen Geflüchtete in Suhl: „Absolut chaotische Situation“
Eine ganze Flüchtlingsunterkunft in Suhl steht unter Corona-Quarantäne – dann rückt die Polizei an. Auch andernorts gibt es infizierte Geflüchtete.
Massuvira Joao bietet in der Erstaufnahmestelle normalerweise eine Asylberatung für die 533 BewohnerInnen an, organisiert vom evangelischen Kirchenkreis. Seit Samstag aber ist damit Schluss: Seither steht die Unterkunft komplett unter Quarantäne. Wegen eines Corona-Infizierten und aktuell vier Verdachtsfällen. Es ist ein Ausnahmezustand, der in der abgelegenen Unterkunft zu erheblicher Unruhe führte – und am Dienstagabend auch zu einem Polizeigroßeinsatz.
Rund 150 Beamte, teils in weißen Ganzkörperschutzanzügen, gingen in die Unterkunft, Wasserwerfer fuhren vor. Die Polizisten führten 22 Geflüchtete ab, die sie als „Störer“ ausmachten. Sie sollen zuvor mit „Unmutsbekundungen“ über die Einschränkungen und „versuchten Quarantänebrüchen“ aufgefallen sein, so die Polizei. Es soll Versuche gegeben haben, über die Zäune zu klettern und andere BewohnerInnen aufzuwiegeln. Auf den Polizeieinsatz hätten die Geflüchteten laut Polizei „ohne größeren Zwischenfälle“ reagiert. Die 22 Abgeführten wurden in die leerstehende Jugendarrestanstalt nach Arnsdorf gebracht, wo sie die Quarantäne fortsetzen sollen.
Am Mittwoch habe sich die Lage in der Suhler Unterkunft und der Arrestanstalt in Arnsdorf wieder beruhigt, hieß es von der Polizei und dem Thüringer Migrationsministerium. Auch Massuvira Joao berichtet nach einem Telefonat mit einem Bewohner von einer ruhigeren Lage. Aber der Polizeieinsatz hinterlässt Fragen – und eine Grundanspannung in der Unterkunft bleibt.
„Hätte bessere Informationspolitik gebraucht“
„Wir sind sehr irritiert über den Polizeieinsatz“, sagt Ellen Könneker vom Thüringer Flüchtlingsrat. „Es hätte wohl eher eine bessere Informationspolitik im Vorfeld gebraucht.“ Könneker berichtet von einer „absolut chaotischen Situation“, in der sich die BewohnerInnen seit der verhängten Quarantäne befänden. „Sie hatten kaum Informationen und wussten nicht, was mit ihnen passiert.“ Zudem gebe es viele Vorerkrankte, es fehle an Desinfektionsmitteln und Beschäftigungsmöglichkeiten, um sich in der Isolation abzulenken. Gerade für Geflüchtete, die Erfahrungen mit Inhaftierungen hätten, sei dies eine extreme Belastung. Der Polizeieinsatz sei für viele umso beängstigender gewesen.
Auch Massuvira Joao berichtet, dass die BewohnerInnen schlecht informiert waren. „Viele wussten nicht, was die Quarantäne bedeutet.“ Deshalb wollte der Helfer am Mittwoch auch mehrsprachiges Informationsmaterial über die Corona-Pandemie in die Unterkunft bringen. „Wichtig sind jetzt Informationen. Und das Zeichen: Wir sind für euch da.“
Die Polizei berichtet dagegen von Dolmetschern, die zuletzt in die Unterkunft geschickt wurden. Übriges Personal habe es dort aber kaum noch gegeben, denn auch fünfzehn Mitarbeiter stehen unter Quarantäne. Polizisten hätten daher bereits mit in die Versorgung einsteigen müssen. Auch am Mittwoch waren noch 20 Polizisten in der Suhler Unterkunft. Der Corona-Infizierte wurde weiter isoliert.
13 infizierte Geflüchtete
Die Unterkunft in Suhl ist indes kein Einzelfall mehr. Das Bundesinnenministerium berichtet von bundesweit 22 Corona-infizierten Geflüchteten an 8 Standorten, verteilt auf 6 Bundesländer. Dazu kommen 18 Verdachtsfälle. Auch für Asylbewerber habe man das Ziel, „die Ausbreitung des Virus einzudämmen und weitere Infektionsketten zu verhindern“, sagte ein Sprecher.
Neu ankommende Geflüchtete würden bei der medizinischen Untersuchung nun auch auf den Virus getestet, damit Infizierte erst gar nicht in die Erstaufnahmeeinrichtungen gelangen. Bei Erkrankungen in den Unterkünften griffen die Pandemiepläne der Länder. Innerhalb der Länder würden Asylsuchende nur noch nach einem negativen Corona-Test oder einer 14-tägigen Quarantäne weiterverteilt.
Die Flüchtlingsräte mehrerer Bundesländer forderten inzwischen, wegen der Corona-Pandemie Abschiebungen auszusetzen, Duldungen zu verlängern und Asylsuchende besser und mehrsprachig über die Lage zu informieren. Zudem müssten möglichst viele Menschen dezentral untergebracht werden. „Unterbringungen auf engstem Raum sind so schon belastend“, bekräftigte die Thüringerin Ellen Könneker. „Bei einer Pandemie aber wird es zum extremen Risiko.“
(Mitarbeit: Dinah Riese)
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