Polizei im Nationalsozialismus: Rendezvous mit der Vergangenheit

Künftige Beamte werden in Bayern mit der Geschichte der Behörde konfrontiert. Denn oft wird die Nazi-Zeit an den Akademien nicht genug behandelt.

Nazis deportieren Jüdinnen und Juden im Oktober 1940.

Deportation von Jüdinnen und Juden im Oktober 1940 Foto: bpk

Die junge Polizistin ist den Tränen nah, als sie im Unterricht für Polizeigeschichte erfährt, dass ihre Vorgänger in Uniform massenhaft Zivilisten umgebracht haben. Die Klasse mit 30 angehenden Kommissaren des bayerischen Staates bekommt hier in ihrer Ausbildungsstätte im oberpfälzischen Sulzbach-Rosenberg zum ersten Mal Dinge zu hören, die seit Langem bekannt, aber nicht Allgemeinwissen sind.

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begannen Polizisten, mit polizeilichen Methoden systematisch wehrlose Menschen zu töten. Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis: Die uniformierte Staatsgewalt beteiligte sich an der Ermordung von über zwei Dritteln aller jüdischen Opfer, wobei sie selbst etwa eine Million Menschen direkt erschoss. Ohne die Polizei wäre der Holocaust nicht möglich gewesen.

Dieser erschütternde Befund zur Rolle der Polizei im „Dritten Reich“ scheint all jene zu bestätigen, die glauben, dass der „Freund und Helfer“ heute noch auf dem „rechten Auge“ blind sei. Skandale der jüngsten Vergangenheit geben ihnen anscheinend recht: So wird ein Frankfurter Polizist verdächtigt, 2018 einer türkischstämmigen Rechtsanwältin in der Mainmetropole Drohfaxe geschickt zu haben, von denen zumindest eines mit „NSU 2.0“ unterschrieben war.

Mit Kollegen soll er sich auch in einer Chatgruppe befunden haben, in der Hitlerbilder und Hakenkreuze kursierten. Wegen des Verdachts auf Rechtsextremismus wird allein in Hessen gegen insgesamt 38 Beamte ermittelt.

Der Geist der deutschen Polizei

Auch mehrere Münchner Polizisten machten im März 2019 von sich reden, weil sie über WhatsApp antisemitische Videos geteilt hatten. Eine Gruppe von ehemaligen und aktiven Elitebeamten aus Mecklenburg-Vorpommern hortete Unmengen an Munition aus den Beständen des Landeskriminalamts. Sie erstellten Listen mit unliebsamen Politikern, die sie offenbar bei einer Staatskrise am „Tag X“ liquidieren wollten.

Für solche besorgniserregenden Zustände werden allerhand Gründe ins Feld geführt: eine tendenziell eher konservativere Grundhaltung von Polizeibeamten, Überforderung durch viele Überstunden und Personalmangel, negative Erfahrungen mit Ausländern, steigende Gewalt gegenüber Polizisten.

Doch damit lassen sich derartige Auswüchse nicht erklären – und rechtfertigen schon gleich gar nicht. Zusammen mit weiteren Missständen, Einsatz- und Ermittlungspannen legen die oben genannten Vorfälle eher den Schluss nahe, dass etwas mit dem Geist in der deutschen Polizei nicht stimmt. Befinden sich aber deshalb gleich alle rund 300.000 Beamten bundesweit in einer politisch-moralischen Krise? Keineswegs!

Ein Blick in die Vergangenheit

Als Dozent für Polizeigeschichte spreche ich mit den angehenden bayerischen Kommissaren auch über aktuelle Skandale in der Polizei und stelle sie in einen historischen Kontext – soweit es die knapp bemessene Zeit zulässt. Die Reaktionen zeigen, dass das Verhalten ihrer Berufsgenossen auch für sie unfassbar ist.

Von der Weimarer Demokratie bis in die Bundesrepublik liefert der Unterricht einen Überblick über die häufig unrühmliche Geschichte der deutschen Polizei – seit Frühjahr 2018 ein Novum im Freistaat.

Im Zentrum steht die Rolle der Polizei im Natio­nalsozialismus. Dabei spielen sich in jedem Semester nahezu die gleichen Szenen ab: In meinen Klassen sitzen etliche Studenten, die anfangs recht amüsiert sind und kichernd miteinander tuscheln. Wahrscheinlich denken sie sich: „Jetzt will ausgerechnet ein Historiker uns Polizisten etwas über die Polizei erzählen!?“

Dementsprechend nehmen einzelne die Lehrveranstaltung zunächst auf die leichte Schulter, während die Mehrheit ihrer Kommilitonen gespannt ist, was auf sie zukommt. Es ist ein Rendezvous mit der Vergangenheit ihrer eigenen Institution. Deren Beteiligung am Holocaust ist ein elementarer Teil des Unterrichts.

In der Theorie ist jeder Polizist ein Musterdemokrat – zumindest, wenn es nach der Exekutive selbst geht

Dieser zielt aber keineswegs darauf ab, den künftigen Führungskräften der Polizei einen Kulturschock zu verpassen. Er wirft schlicht wichtige Fragen auf: Wie wurde die Polizei zu dem, was sie heute ist? Welche Lehren kann ich aus der Geschichte ziehen? Ist das alles längst vergangen oder hat das auch etwas mit mir zu tun? Wie hätte ich mich in der jeweiligen Situation verhalten? Hätte ich mitgeschossen oder mich dagegen entschieden?

Als Polizeihistoriker befasse ich mich schon seit vielen Jahren mit Fragen rund um die dunkle Vergangenheit der deutschen Staatsgewalt. In meiner Doktorarbeit untersuchte ich anhand der Polizeischule Fürstenfeldbruck, an der ich heute ebenfalls unterrichte, wie die Nationalsozialisten die Führungskräfte der Ordnungspolizei ausbildeten und welche Folgen das hatte.

Hunderte Männer aus ganz Deutschland und Österreich besuchten in der oberbayerischen Bildungsstätte spezielle Lehrgänge, aus denen sie als Polizeioffiziere hervorgehen sollten. Diese Kurse zielten besonders darauf ab, sie auf ihren Kriegseinsatz und vor allem auf den Kampf gegen „Banden“ vorzubereiten.

Erschreckend viele Schüler, aber auch Lehrer und sogar Schul­leiter verübten in den besetzten Gebieten zahlreiche Gräueltaten an Juden und anderen Opfern. Ihre Taten reichten von Massenerschießungen über Sexualverbrechen an Kindern bis zur Vernichtung ganzer Dörfer.

Radikalisierung in Grüppchen

Für meine Studenten ist das kein leicht verdaulicher Lehrstoff; und sie reagieren ganz unterschiedlich. Die einen lassen den Unterricht über sich er­gehen, verfolgen ihn teilnahmslos und fragen sich wohl bis zum Schluss, was ihnen das eigentlich bringen soll. Andere zeigen sich deutlich interessierter: durch aktive Mitarbeit, Wortbeiträge und Nachfragen.

Mehrfach kamen einzelne auf mich zu, um mir für den Unterricht zu danken. Junge Polizisten reagieren also durchaus engagiert, wenn sie von der mörderischen Historie ihres Dienstherrn erfahren – und das ist keineswegs selbstverständlich. Denn schließlich sind sie Nachfolger der einst eben hier im nationalsozialistischen Ungeist unterrichteten Offiziersanwärter.

Seither hat sich die Mentalität innerhalb der Polizei enorm zum Guten gewandelt. Sie bemüht sich sehr darum, ihren Angehörigen demokratische Werte zu vermitteln. In der Theorie ist jeder Polizist ein Muster­demokrat – zumindest, wenn es nach der Exekutive selbst geht. Für die absolute Mehrheit der uniformierten Staatsdiener trifft das auch zu.

Die Praxis zeigt jedoch auch, dass sich einzelne Beamte nicht so verhalten, wie man es von Demokraten in Uniform erwarten muss. Im Gegensatz zu den von ihrer Institution vorgegebenen Normen pflegen sie eine inoffizielle Polizistenkultur, die wesentlich durch eigene Erfahrungen im Einsatz und die Kameradschaft geprägt wird.

Die Polizeigeschichte der Zukunft

Schlimmstenfalls bilden sich so Grüppchen innerhalb der Polizei, die sich gemeinsam radikalisieren und ein übersteigertes Freund-Feind-Denken entwickeln. Werden einzelne meiner Studenten irgendwann einmal auch zu ihnen zählen? Obwohl ich es mir nur schwer vorstellen kann, wird es die Zeit zeigen. Als angehende Führungskräfte der bayerischen Polizei werden sie nicht zuletzt für das Befinden ihrer Untergebenen verantwortlich sein und solche Vorgänge zu verhindern haben.

Jeder von ihnen hat es in der Hand, an den künftigen Kapiteln der Polizeigeschichte mitzuschreiben. Im Rahmen seiner Möglichkeiten kann jeder Einzelne für sich bestimmen, wie diese aussehen sollen.

Die Vergangenheit zeigt, welche katastrophalen Folgen es haben kann, wenn Polizisten ihre Macht missbrauchen, Befehle blindlings befolgen und ihre Karriere über Menschenleben stellen. Dahingehend müssen die Gesetzeshüter von heute und morgen sensibilisiert werden.

An ihren Lehranstalten dominieren jedoch andere Themen, die Geschichte ihrer Institution kommt in der Ausbildung viel zu kurz. Ein Allheilmittel ist sie nicht. Wer sich als Gesetzeshüter mit ihr auseinandersetzt, ist nicht davor gefeit, politisch abzudriften, selbst gegen das Gesetz zu verstoßen und eine Gefahr für Bürgerinnen und Bürger zu werden, statt sie zu schützen.

Aber die Erinnerungskultur muss gerade innerhalb der Polizei intensiver gepflegt werden, um ihre Angehörigen und damit auch uns so gut wie nur möglich davor zu bewahren, selbst zum Gegenstand weiterer dunkler Kapitel ihrer Geschichte zu werden.

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studierte Geschichte und Politische Wissenschaft an der LMU in München. Der promovierte Historiker arbeitet in den Bereichen Redaktion und Marketing und ist als Lehrbeauftragter an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern – Fachbereich Polizei tätig

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